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Plädoyer für die Einrichtung des Wiesenthal-Instituts  
  Die Finanzierung des geplanten Wiener Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien ist nach wie vor ungeklärt. Der deutsche Historiker Dirk Rupnow plädiert in einem Gastbeitrag für die Einrichtung des Instituts: nicht nur wegen des moralischen Erbes von Simon Wiesenthal, sondern vor allem für die Zukunft der Zeitgeschichtsforschung. Im Nachlass des "Nazijägers" finden sich noch zahlreiche "historische Schätze".  
"Holocaust Studies" in Österreich?
Von Dirk Rupnow

Es ist nur schwer zu entscheiden, ob man vor allem die bisherige Abwesenheit eines Zentrums für die Erforschung des Holocaust in Österreich als einzigartig ansehen soll, oder ob eine solche Einrichtung selbst einzigartig sein könnte. "Holocaust Studies" konnten sich in Österreich bislang nicht etablieren. In Deutschland sieht die Situation nur unwesentlich besser aus.

Durch die Omnipräsenz der Vergangenheit in den Medien und der Öffentlichkeit ist man geneigt zu übersehen, dass der Status der wissenschaftlichen Erforschung der NS-Massenverbrechen weiterhin als durchaus prekär gelten kann. Fast nur in den USA hat sich bisher ein eigenständiger, interdisziplinärer Forschungszweig der "Holocaust Studies" herausbilden, institutionalisieren und professionalisieren können.

Doch selbst dort sind sie keinesfalls allseitig anerkannt, wie Raul Hilberg, der Nestor der Holocaust-Forschung, während der Konferenz "The Legacy of Simon Wiesenthal for Holocaust Studies" am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien betonte.
Weiter "Verweilen im Grauen"
Die Reputation des Faches scheint so schlecht zu sein wie die des Boten, der für das Überbringen der schlechten Nachricht gestraft wird. Oft gilt es in akademischen Kreisen einfach als unappetitlich, sich auf die Erforschung von Massenverbrechen zu spezialisieren.

Und tatsächlich stellt die Beschäftigung mit diesen Ereignissen eine Zumutung dar. Eine notwendige allerdings, dies sollte nicht vergessen werden. Hannah Arendt nannte es: "Verweilen beim Grauen". Die Geschichte durch Ignorieren bannen und entschärfen zu wollen, dürfte wenig Erfolg versprechend sein.
Sinn einer neuen Forschungsinstitution klären
Weil es mit einer großen internationalen Konferenz, in den Räumen des IFK abgehalten, erstmals sichtbar hervortrat, wurde über das formell bereits gegründete, aber noch auf seine Realisierung wartende Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI) in den vergangenen Tagen viel berichtet.

Die Bundesregierung zögert noch, ein eigenständiges Forschungszentrum mit der Stadt Wien kozufinanzieren, betont aber, dass sie alles tun wolle, um den Wiesenthal-Nachlass im Land zu halten.

Niemand möchte sich freilich vorwerfen lassen, dass er Wiesenthals Erbe leichtfertig ausschlägt und ins Ausland abwandern lässt. Sehr viel weniger klar scheinen allerdings Sinn und Notwendigkeit einer neuen, eigenständigen Forschungseinrichtung für Holocaust-Studien zu sein.
Riesiger Nachlass Wiesenthals
Wiesenthals Nachlass allein ist schon einmal nicht zu unterschätzen: Es handelt sich keinesfalls "nur" um "8.000 Dokumente", wie es in der "Presse" hieß.

Vielmehr geht es um 8.000 Aktenkonvolute zu NS-Tätern, Tatorten und Verbrechenskomplexen, die insgesamt ungefähr 35 Laufmeter einnehmen. Dazu kommen - neben Büchern, Fotos und privaten Unterlagen - etwa 39 weitere Laufmeter der Korrespondenz Wiesenthals.

Gerade sie stellen, wie erste Einblicke bereits zeigen, eine einzigartige Quelle für die Nachkriegsgeschichte dar und legen Zeugnis ab vom Wandel des Holocaust von einem weltweit verdrängten und marginalisierten Ereignis zu dem globalen Code für Massenverbrechen, Völkermord und das Böse allgemein - parallel zu Wiesenthals Lebensgeschichte eines unbekannten Überlebenden der nationalsozialistischen Lager, der zur internationalen Zelebrität und Autorität in Sachen Menschenrechte wurde.
Bedeutung für moderne Gesellschaft
Doch weit mehr als Wiesenthals materieller Nachlass rechtfertigt sein moralisches und ideelles Erbe ein eigenes Forschungszentrum. Es gibt eine Agenda und einen Anspruch vor, die Vergangenheit des von Deutschen und Österreichern initiierten und mit ihren Kollaborateuren durchgeführten Verbrechen bis hin zum systematischen Massenmord um der Zukunft und der Menschenrechte willen zu beschreiben und zu analysieren.

Es geht freilich nicht nur darum, die noch enormen, bestehenden Wissenslücken über die Ereignisse zwischen 1933 bzw. 1938 und 1945 oder deren Vorgeschichte zu schließen, sondern auch um eine Beschäftigung mit den Folgen der Verbrechen und ihrer Bedeutung für unsere moderne Gesellschaft.

Dass Relevanz und Präsenz dieser Vergangenheit ungebrochen sind, trotz des zeitlichen Abstands, wird ja immer wieder deutlich, selbst noch in den beständigen Forderungen nach Normalität, Vergessen und Schlussstrichen. Vorurteile, Antisemitismus und Rassismus sind ebenso wenig aus der Welt verschwunden wie Diskriminierung, Verfolgung und Massenmord.
Gegenstand internationaler Politik
Dementsprechend ist der Holocaust längst nicht nur zum Medienereignis, sondern auch zum Gegenstand internationaler Politik geworden. Die österreichische Bundesregierung hat im Januar 2000 in Stockholm, gemeinsam mit anderen Ländern, die globale Bedeutung des Holocaust als Mahnung zur Einhaltung und Einforderung von Menschenrechten offiziell festgeschrieben - und sich nicht nur dazu verpflichtet, politische und moralische Lehren aus den Ereignissen zu ziehen, sondern auch ihre Erforschung zu fördern.

Die europäische Union versucht sich vor dem Hintergrund des Holocaust als Wertegemeinschaft zu konstituieren und eine gemeinsame Identität zu konstruieren.

Im Hinblick darauf war es freilich ein peinlicher, aber wohl bezeichnender Ausrutscher, die Sitzung von National- und Bundesrat zum Gedenken an die NS-Opfer in diesem Jahr gerade mit Hinweis auf organisatorische Schwierigkeiten durch die EU-Präsidentschaft abzusagen.
Vermittlung wichtiger als Rituale
Soll Erinnerung in einer Welt ohne Zeitzeugen nicht erstarren und ausschließlich in Ritualen und Betroffenheitsrhetorik gerinnen oder aber in der massenmedialen Verarbeitung banalisiert werden, so ist sie vor allem auf Vermittlung und Aneignung von historischem Wissen und dessen Neuproduktion angewiesen.

Die klassische Zeitgeschichtsforschung, die die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg als einen moralischen Auftrag angenommen hat, kann dies nicht mehr leisten. Ihr Fokus hat sich mit dem Voranschreiten der Zeit naturgemäß verschoben: als Geschichte der Mitlebenden kümmert sie sich inzwischen verstärkt um die Nachkriegsgeschichte.
International und interdisziplinär
Der Holocaust als Forschungsthema gleitet unmerklich mit dem Ableben der letzten Zeitzeugen aus der Zeitgeschichte heraus, wird aber nirgendwo anders in das Forschungsprogramm aufgenommen.

Eigenständige "Holocaust Studies" tragen dem Rechnung - wie auch der Tatsache, dass die Ereignisse in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit sinnvoll nur von verschiedenen Fachdisziplinen gemeinsam und, auf Grund ihrer ganz Europa umfassenden Ausdehnung, nur im internationalen Zusammenhang und dementsprechend in internationaler Zusammenarbeit analysiert werden können.
Historische Faktenlage eindeutig
Die Furcht vor der Konfrontation mit historischer Evidenz ist in Österreich immer noch weit verbreitet. Immer noch fällt es schwer anzuerkennen, dass Österreicher, die sich in diesen Jahren freilich als Deutsche deklariert haben, an den NS-Verbrechen in dem gleichen Maße beteiligt waren wie Preußen und Bayern. Nicht mehr und nicht weniger.

Natürlich wird ein Wiener Holocaust-Forschungszentrum auch die spezifische Involvierung von Österreicherinnen und Österreichern in den Blick nehmen. Letztlich besteht aber kein Grund zur Unruhe. Es leben ohnehin kaum noch Täter, weniger als überlebende Opfer auf jeden Fall.

Es geht nicht um die Errichtung einer Strafverfolgungs- oder Restitutionsbehörde. Die gleichberechtigte Mittäterschaft von Österreichern an den deutschen Verbrechen steht ohnehin außer Frage. Sie diskutieren zu wollen, kann höchstens noch als Folklore gelten.
Weiterentwicklung der Holocaust-Forschung
Die internationale und interdisziplinäre Holocaust-Forschung, an die sich Österreich ankoppeln sollte, beschäftigt sich mittlerweile mit gänzlich anderen Fragen: mit der europäischen Dimension von Raub und Massenmord, mit den Kontinuitäten aus der Zeit des Kolonialismus, mit der Nachgeschichte und Repräsentation der NS-Verbrechen oder mit dem Vergleich mit anderen Genoziden.

In Österreich wäre es notwendig, den Blick zu weiten und sich mit diesen Themen zu beschäftigen.

Signifikanterweise ging es ja bisher in den heimischen Diskussionen vor allem um Restitutionsfragen und den NS-Kunstraub, auf eigenartige Weise das Selbstverständnis einer vermeintlichen Kulturnation spiegelnd, oder aber höchstens um Verbrechen auf österreichischem Boden, etwa im Konzentrationslager Mauthausen, und österreichische Opfer wie die vertriebenen und ermordeten österreichischen Juden, womit man sich erneut aus dem gemeinsamen "Großdeutschen Reich" und dem Zusammenhang der NS-Verbrechen herausdefiniert und die Staatsdoktrin vom "ersten Opfer" (selbst nach dem Teil-Eingeständnis eigener Täterschaft) noch verschoben fortgeschrieben wird.
Jenseits der Landesgrenzen
Überhaupt nicht wahrgenommen wurden allerdings die Tatorte und Opfer jenseits der Landesgrenzen, die auch dort unter gleichberechtigter Beteiligung österreichischer Täter beraubt, deportiert und ermordet wurden.

Damit wird jedoch nicht weniger als die Besonderheit des nationalsozialistischen Systems und die Dimension seiner Massenverbrechen ausgeblendet.
Ehrlichkeit und Offenheit
Von Österreich wäre nur ein wenig Ehrlichkeit und Offenheit der eigenen Vergangenheit gegenüber gefordert, was nach 60 Jahren wohl nicht zu viel verlangt sein sollte. Selbst wenn man nicht an die Möglichkeit von Lehren aus der Geschichte glaubt, scheint ein ehrlicher Blick auf die Vergangenheit vernünftig zu sein.

Eine eigenständige österreichische Identität dürfte inzwischen wohl auch soweit etabliert sein, dass sie ohne den Mythos vom "ersten Opfer" auskommen kann, der zu ihrer Durchsetzung vielleicht tatsächlich einmal notwendig war. Zudem könnte man das Einhalten international eingegangener Verpflichtungen anmahnen.

Vorausgesetzt bei alledem ist aber natürlich ein Verständnis für die Notwendigkeit eines genauen Blicks auf die komplexen Vorgänge des Holocaust und eine differenzierte Beschäftigung mit den Ursachen und Folgen, die nur durch wissenschaftliche Forschung geleistet werden kann, jenseits der öffentlichen Gedenkrituale und der Massenmedien.

[23.6.06]
->   Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI)
->   Konferenz vom 7. bis 8. Juni 2006 am IFK (VWI; inkl. Videos)
->   IFK
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Über den Autor
Dirk Rupnow, Dr. phil., geboren in Berlin, lebt und arbeitet als Historiker in Wien. Gastaufenthalte u.a. am Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museums, Washington, DC. Zahlreiche Publikationen, zuletzt der Essay-Band "Aporien des Gedenkens. Reflexionen über 'Holocaust' und Erinnerung" in der Reihe "parabasen" des IFK (Rombach-Verlag, Freiburg i.Br.).
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01.01.2010