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Patient erwacht nach 19 Jahren Dämmerzustand  
  Im Jahr 1984, als noch Ronald Reagan US-Präsident war, hat der aus Arkansas stammende Teenager Terry Wallis eine schwere Gehirnverletzung erlitten. 19 Jahre verbrachte er daraufhin im Dämmerzustand, dann wachte er plötzlich auf und lernte wieder sprechen. Die Medien feierten den Fall damals als "Wunder", Gehirnanalysen zeigen nun jedoch: Hinter der Genesung des Patienten stehen handfeste neurologische Veränderungen.  
Wie ein Team um Henning U. Voss von der Cornell University berichtet, haben offenbar Nervenfasern in Wallis' Großhirnrinde und Kleinhirn neue Verbindungen geknüpft. Spät zwar, aber doch.
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Die Studie "Possible axonal regrowth in late recovery from the minimally conscious state" von Henning U. Voss et al. erschien im "Journal of Clinical Investigation" (Bd. 116, S.2005-11; doi: 10.1172/JCI27021).
->   Abstract (sobald online)
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Folgenreicher Verkehrsunfall
Man schrieb das Jahr 1984, als der 19-jährige Terry Wallis mit zwei Freunden in der Nähe von Stone County, Arkansas, mit dem Auto von der Straße abkam und rund acht Meter in die Tiefe stürzte. Einer der drei Insassen starb, ein anderer überlebte ohne Verletzungen. Der dritte, Wallis, überlebte ebenfalls, fiel jedoch aufgrund massiver Hirnverletzungen ins Koma.

Solche komatösen Zustände bleiben entgegen der landläufigen Meinung nur wenige Wochen aufrecht und können eigentlich nicht chronisch werden, betonet Erich Schmutzhard von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck gegenüber science.ORF.at: Nur bei hirntoten Patienten bleibe das Koma dauerhaft bestehen, so Schmutzhard.

Das war bei Terry Wallis allerdings nicht der Fall: Er erreichte einen Dauerzustand, den Fachleute als "minimal conscious state" (MCS) bezeichnen.
Minimale Kommunikation möglich
MCS-Patienten lächeln mitunter und können in geringem Ausmaß sogar auf sprachliche Anweisungen reagieren, etwa durch Grunzlaute oder Heben des Kopfes.

Im Gegensatz zu jenen Fällen, bei denen Patienten in einem vegetativen Zustand verharren ("vegetative state" bzw. kurz: VS genannt). Diese zeigen lediglich reflexhaftes Verhalten und sind daher nicht zur Kommunikation mit ihrer Umwelt imstande (Neurology, Bd. 58, S. 249).

"Im Prinzip kann man die Reaktionen von VS- und MCS- Patienten mit den Fähigkeiten von Neugeborenen und zwei Monate alten Säuglingen vergleichen", erläutert Schmutzhard: "Neugeborene sind im Wesentlichen Hirnstammwesen. Bei ihnen funktionieren alle Reflexe, wie etwa der bekannte Saugreflex. Äußerlich sichtbare emotionale Reaktionen, also das, was Eltern besonders Freude bereitet, stellen sich aber erst nach zwei Monaten ein."
Das erste Wort: "Mum"
In diesem Stadium verharrte Terry Wallis 19 Jahre lang. Dann, im Jahr 2003, wachte er plötzlich auf und sagte: "Mum". Und später: "Pepsi. Milk."

Die sprachlichen Fähigkeiten von Wallis entwickelten sich innerhalb der nächsten Tage gut. Zwar waren seine Äußerungen nicht klar artikuliert, aber dennoch fließend, berichtet nun ein Team um Henning U. Voss von der Cornell University, das Wallis seit seinem Erwachen zwei Mal untersucht hat.

Bei der ersten Untersuchung zeigte sich, dass er - zumindest zum damaligen Zeitpunkt - noch immer im Jahr 1984 lebte und sich dementsprechend als Teenager fühlte. Überdies stritt er sämtliche körperlichen und kognitiven Probleme ab und gab für die bestehenden Symptome eine Reihe vernünftiger, wenn auch falscher Erklärungen ab.
Nervenfortsätze schufen neue Verbindungen
Darüber hinaus durchleuchteten Voss und Kollegen auch Wallis' Gehirn mit einer Version der Magnetresonanztomografie, die speziell Änderungen der weißen Hirnsubstanz gut erfassen kann.

Ein Vergleich mit einem zweiten Patienten, der sich seit sechs Jahren ohne Anzeichen einer Besserung im MCS befindet, ergab dann auch, das sich Wallis' Gehirn offenbar im Bereich der hinteren bzw. mittleren Großhirnrinde sowie im Kleinhirn regeneriert hat.

Das Team um Voss vermutet, dass die Axone genannten faserartigen Fortsätze von Nervenzellen zum Teil neu ausgewachsen sind und neue Verbindungen geschaffen haben. Das sei auch letztlich der Grund dafür, dass Wallis gewisse sprachliche und motorische Fähigkeiten wiedererlangt habe.
Dogmen überdenken
Dass sich das Gehirn 19 Jahre nach einer schweren Verletzung von selbst regenerieren kann, ist nicht nur medizinische interessant, sondern hat auch eine Reihe ethischer Implikationen, betont Steven Laureys von der Universität Liège in einem Kommentar:

"Patienten mit minimalem Bewusstsein laufen ständig Gefahr, dass ihnen lebensrettende Therapien vorenthalten werden. Dieser Fall zeigt uns, dass man alte Dogmen mitunter überdenken muss."

[science.ORF.at, 4.7.06]
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Nachlese
Medienberichte zum Fall Terry Wallis erschienen im Jahr 2003 unter anderem bei CNN, BBC und USA Today.
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01.01.2010