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Eric Kandel: Im Strom der Erinnerung  
  Das Schicksal von Eric Kandel teilten damals viele. 1929 in Wien geboren, musste er als Neunjähriger vor dem Nazi-Regime flüchten und in die USA emigrieren. In seiner neuen Heimat sollte Kandel später eine erfolgreiche Laufbahn als Neurowissenschaftler einschlagen, die im Jahr 2000 mit der Verleihung des Nobelpreises gekrönt wurde. In zwei neuen Büchern verarbeitet er die Traumata seiner Kindheit und hält Rückschau - auf sein Leben und auf die Geschichte der Hirnforschung, die er selbst entscheidend mitgeprägt hat.  
Vertrieben aus Österreich
"Niemals vergessen!" lautete ein bekanntes Motto, mit dem - nicht nur - Juden nach dem Holocaust fortwährende Wachsamkeit gegenüber neuen rassistischen und antisemitischen Strömungen forderten. Das Vergessen und sein Gegenstück - die Erinnerung - sollten auch für Eric Kandel prägend sein.

Zum einen in historischer Hinsicht: Seine soeben erschienene Autobiografie "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" beginnt mit den Novemberpogromen in Wien, bei denen der seit Jahren schwelende Antisemitismus in rohe Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung umschlug. "Im Vergleich zu Wien", sagte Simon Wiesenthal einmal, "war die Kristallnacht in Berlin eine angenehme Weihnachtsfeier."

Kandel, zum damaligen Zeitpunkt neun Jahre alt, musste miterleben, wie NS-Polizisten die Wohnung seiner Eltern stürmten, wie Juden öffentlich gedemütigt, verschleppt und später ermordet wurden. Er trägt die Ereignisse des Novembers 1938 noch immer in lebendiger Erinnerung. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade die Fähigkeit, Vergangenes im Geiste wieder und wieder zu erleben, auch seine intellektuelle Entwicklung beeinflusst hat.
Von der Literatur zur Medizin

Kandel bei der Nobelpreisfeier
der Columbia University
In den Wiener Kindheitserlebnissen liege sicher ein Motiv, das ihn später zur Gedächtnisforschung geführt habe, bestätigt Kandel im Gespräch mit science.ORF.at. Und: Man könne sein geradezu obsessives Interesse für dieses Thema durchaus als Form der Selbsttherapie lesen.

Nach der Emigration in die USA studierte Kandel zunächst Literatur und Geschichte, wandte sich danach jedoch der Psychoanalyse zu. Um auf diesem Gebiet tätig zu werden, musste man damals Medizin studieren, weswegen sich Kandel an der New York University School of Medicine einschrieb.

In dieser Zeit kam er mit dem Neurophysiologen Harry Grundfest in Kontakt, der ihn lehrte, dass man auf dem Weg zu einem Verständnis des menschlichen Denkorgans zunächst die Vorgänge im Kleinen - sprich: in der einzelnen Nervenzelle - ergründen müsse.
Forschung an Schnecken
Bild: Siedler Verlag
Entgegen des ursprünglichen Vorhabens, Psychoanalytiker zu werden, entschied sich Kandel unter dem Einfluss Grundfests und anderer dafür, in der experimentellen Forschung zu bleiben. Er widmete sich fortan der Meersschnecke Aplysia, an der er die Phänomene der Gewöhnung und Sensitivierung bis hin zu ihren molekularen Details aufklärte. Das sind Prozesse, die auch im menschlichen Gehirn ablaufen und die Grundlage für höhere geistige Fähigkeiten darstellen.

Auf Seite 229 von Kandels Autobiografie findet sich eine hübsche Stelle, an der er seine siebenjährige Tochter Minouche zu Wort kommen lässt, die zu seinem 43. Geburtstag ein Gedicht verfasste. Es handelt von ihres Vaters liebstem Forschungsobjekt, der kleinen Meeresschnecke:

"An aplisia is like a sqishy snail / In rain in snow, in sleet, in hail / When it is angry, it shoots out ink / The ink is purple, it's not pink / An aplisia cannot live on land / It doesn't have feet so it can't stand / It has a very funny mouth / And in winter it goes to the south."

Fasziniert von Aplysia zeigte sich im Übrigen auch das Nobelpreiskomitee: Die bahnbrechenden Arbeiten über das Nervensystem der Schnecke waren - neben jenen am Hippocampus der Maus - hauptverantwortlich dafür, dass Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie verliehen wurde.
->   Eric R. Kandel - Nobel Lecture
Dialog zweier Kulturen
Obwohl sich Kandel als Forscher auf das experimentell Kontrollierbare und daher möglichst einfache Untersuchungsobjekte beschränkte, verlor er niemals den Kontakt zu Psychoanalyse und ihrem besonderen Argumentationsstil.

Im Jahr 1979 veröffentlichte Kandel etwa im "New England Journal of Medicine" die Arbeit "Psychotherapy and the single synapse", in der er die damals provokante Ansicht vertrat, dass erfolgreiche Psychotherapie auf der selben Ebene wirke wie Medikamente: nämlich auf jener der neuronalen Verschaltungen und Synapsen.

Dass die darin ausgesprochene Forderung nach einem Dialog zwischen Neurobiologie und Psychotherapie bzw. -analyse heute um einiges weiter gediehen ist, zeigen Aufsätze neueren Datums, die nun mit dem oben genannten im Sammelband "Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes" erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.
Freud im Experiment
Nicht zuletzt durch die stetige Verbesserung der bildgebenden Methoden sieht Kandel heute reelle Chancen, dass man die Psychoanalyse experimentell überprüfen wird können.

In gewissen Bereichen sei das sogar bereits geschehen: "Beispielsweise gibt es Studien, die zeigen, dass bei zwanghafter Neurose eine neuronale Überaktivität im so genannten Kaudatum besteht. Und kognitive Verhaltenstherapie, das wurde ebenfalls nachgewiesen, beseitigt genau diese übermäßige Aktivität", so Kandel.

Zwar gestehe er zu, dass andere Konzepte der Psychoanalyse - etwa mit dem Über-Ich zusammenhängende moralische Konflikte - ungleich schwieriger durch ein experimentelles Setting abzubilden seien. Prinzipiell möglich sei es dennoch.

"Die Phänomene, die Freud beschrieben hat, sind ja da. Wir können sie aneinander beobachten", meint Kandel: "Die Frage ist, ob all seine Erklärungen zutreffend waren. Wenn er Recht hatte: gut. Und wenn nicht: na und? Er hat uns eine völlig neue Welt eröffnet!"

Robert Czepel, science.ORF.at, 7.7.06
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Literaturhinweise
"Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes" erschien 2006 im Siedler-Verlag. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Hainer Kober. Buchpräsentation mit Eric Kandel am Samstag, 8. Juli, 18 Uhr, im Jüdischen Museum; Dorotheergasse 11, 1010 Wien.
"Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes" erschien 2006 bei Suhrkamp. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Bischoff und Jürgen Schröder.
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->   Eric Richard Kandel - Wikipedia
->   Website von Eric Kandel - Columbia University
->   Alle Beiträge zum Freud-Jahr 2006 in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010