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Rudolf Ekstein: Nachlass des Wiener Psychoanalytikers  
  Berühmt wurde Rudolf Ekstein durch die Entwicklung neuer Methoden in der Kinderpsychotherapie, seine Überlegungen zum Gelingen von Lernprozessen sind hochaktuell. Jetzt wurde der Nachlass des Wiener Psychoanalytikers eröffnet.  
Der 1912 in Wien geborene und 2005 in Los Angeles verstorbene Ekstein hat die Entwicklung der Psychoanalyse, Psychotherapie und Pädagogik im 20. Jahrhundert wesentlich mitgeprägt.

Einen Überblick über das Werk Eksteins kann man sich in der Rudolf-Ekstein-Sammlung an der Universität Wien verschaffen, die am Donnerstag im Rahmen eines Gedenksymposiums eröffnet wurde. Ebenfalls neu ist ein interdisziplinärer "Scientific Advisory Board", der rund um die Sammlung Forschungsprojekte initiieren will.
Geprägt durch Wiener Psychoanalyse der Zwischenkriegszeit
Bild: Uni Wien
Rudolf Ekstein kam im Rahmen seines Psychologie-, Philosophie- und Geschichtestudiums an der Universität Wien bereits sehr früh und sehr eng mit der Wiener Psychoanalyse in Kontakt. Insbesondere die damals aufkommende Schule der psychoanalytischen Pädagogik sollte seine spätere Arbeit entscheidend prägen.

Die Vertreter dieser Richtung der Psychoanalyse, die mit Namen wie Anna Freud und Siegfried Bernfeld verknüpft ist, versuchten, Erkenntnisse aus der Psychotherapie für die Pädagogik nutzbar zu machen.

Sie betonten vor allem die Bedeutung von unbewussten und emotionalen Faktoren für Lernprozesse. Das seien Faktoren, die zuvor weitgehend marginalisiert worden waren und auch in aktuellen Bildungsdebatten nach wie vor wenig beachtet werden, erklärt Wilfried Datler vom Institut für Bildungswissenschaften an der Universität Wien gegenüber dem ORF.
Biographischer Bruch 1938
1938 brach die Tradition der psychoanalytischen Pädagogik in Wien gewaltsam ab. Rudolf Ekstein, der als Jude, aktiver Sozialist und Psychoanalytiker gleich dreifach von Deportation bedroht war, musste Wien noch im März 1938 verlassen. Er emigrierte in die USA. Dort setzte er seine psychoanalytische Ausbildung fort.

Eine neue wissenschaftliche Heimat fand Ekstein von 1947 bis 1958 an der renommierten Menninger Clinic in Topeka. Seine dortigen Studien zur psychoanalytischen Therapie von autistischen und so genannten Borderline-Kindern wurden international berühmt: Wenige vor Ekstein hatten es verstanden, sich in ähnlich sensibler Weise in die innere Welt von schwer kranken Kindern einzufühlen wie er.

Ekstein war durch seine Zwangsemigration selbst mit emotionalen Extremsituationen, so etwa mit Panik- und Angstzuständen, gut vertraut. Das erleichterte ihm den Zugang zu den Kindern und die Entwicklung adäquater Therapiemethoden, ist Datler überzeugt.
->   Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Wikipedia
Brücken zwischen Psychotherapie und Pädagogik
Das Bemühen, Pfade in das "Wunderland der schizophrenen Erkrankung" (Ekstein 1975) zu finden, stand auch im Zentrum Eksteins späterer Tätigkeit am Reiss-Davis Child Study Center in Los Angeles, das er zwischen 1958 und 1978 leitete.

Sein zweiter Arbeitsschwerpunkt galt Zeit seines Lebens der Anwendung der Psychoanalyse in Erziehung und Unterricht. Bahn brechend wurde Eksteins 1969 erschienenes Buch "From learning for love to love of learning", erklärt Datler.

"Ekstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass Lernprozesse sehr eng damit verbunden sind, wie Kinder und Heranwachsende ihre Beziehung zu ihren Erziehern erleben. Dabei hat er gezeigt, dass Lernprozesse zunächst wesentlich davon gesteuert werden, wie Kinder das wahrnehmen und emotional erleben, was ihnen an Ausschnitten der Welt von anderen entgegen gebracht wird."
Lust am Lernen ist förderbar
Freude und Lust am - eigenständigen - Lernen kann Ekstein zufolge entstehen, wenn die Lernsituationen so gestaltet werden, dass Heranwachsende ihre Beziehung zu ihren Erziehern angenehm erleben und zugleich auch erfahren können, wie spannend es ist, sich mit noch nicht vertrauten Dingen zu beschäftigen.

In der aktuellen Pisa-Debatte würde das Augenmerk eher darauf gelegt, wie Heranwachsende zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Leistungen erbringen können. Der emotionale Aspekt würde zu wenig berücksichtigt, kritisiert Datler:

"Wenn der Zusammenhang mit dem Biographischen - mit den Vorerfahrungen - ausgeblendet bleibt, dann tritt auch das Nachdenken über die Prozesshaftigkeit von Lehren und Lernen, von Erziehung und Bildung in den Hintergrund. Und aus der Perspektive, die uns die Eksteinsche Forschung nahe legt, ist dies ein nahezu sträfliches Versäumnis."
Ekstein als Vermittler
Ekstein, der von seinen Studierenden als faszinierender Erzähler beschrieben wird, vermittelte die Lust am Eintauchen in neue Wissens- und Forschungsfelder - in den USA wie auch in Österreich.

1961 kehrte Ekstein zum ersten Mal seit seiner erzwungenen Emigration nach Österreich zurück. Zwischen 1960 und 1996 verbrachte er fast jeden Frühling in Wien und leitete Seminare zu Kinderpsychotherapie und Fortbildungskurse für Pädagogen. Vieles vom verschütteten Wissen um die Tradition der psychoanalytischen Pädagogik fand auf diesem Weg zurück nach Wien.

Durch seine wechselnde Tätigkeit in den USA und in Österreich vermittelte Ekstein nicht nur zwischen österreichischen und amerikanischen Forschungstraditionen. Er versuchte auch immer wieder den Brückenschlag zwischen universitärer und außeruniversitärer Arbeit im Feld der Psychotherapie und Pädagogik. Ein Denken in streng abgezirkelten Schulen war ihm fremd.
Neue Forschungsinitiativen um Eksteins Nachlass
An diesen vermittelnden Aspekt der Arbeit Rudolf Eksteins zu erinnern ist auch dem neu gegründeten Ekstein Advisory Board an der Universität Wien wichtig. Ihm gehören nicht nur Mitglieder verschiedener Institute und Kliniken der Universität Wien an, sondern auch Vertreter außeruniversitärer Forschungseinrichtungen.

Der Board wurde anlässlich der Übergabe von Eksteins Nachlass an das Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien eingerichtet. Sein Ziel ist es, Projekte zu initiieren, die an Eksteins Arbeiten anknüpfen. Emotionale Faktoren von Bildungs- und Erziehungsprozessen sollen wieder stärker beleuchtet werden. Dabei wird ein erster Forschungsschwerpunkt den noch wenig bearbeiteten Kinderkrippen gelten.
Ekstein-Gedenken in Wien
Anlässlich der Eröffnung der Rudolf-Ekstein-Sammlung am Donnerstag wurde nicht nur an die Aktualität der Arbeiten des Wiener Psychoanalytikers erinnert. Auch der Schmerz, den Ekstein sein Leben lang über den Bruch in seiner Lebensgeschichte empfand, wurde angesprochen.

Seiner Zerrissenheit zwischen den USA und Österreich trug diesen Dienstag ein symbolischer Akt Rechnung: Im Beisein seiner Familie wurde die Hälfte von Rudolf Eksteins Asche - und jener seiner Frau Ruth - am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Die andere Hälfte verbleibt in den USA.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at/Ö1, 07.07.06
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Radio-Tipp auf Ö1
Dem Psychoanalytiker Rudolf Ekstein und der Aktualität seiner Schriften widmet sich auch das Dimensionen-Magazin auf Ö1.

Datum: Freitag, 7. Juli 2006, 19:05 Uhr
->   Details zur Sendung
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->   Psychoanalytische Pädagogik, Universität Wien
->   Rudolf Ekstein Zentrum Wien
 
 
 
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01.01.2010