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Gehirn-Chip hilft Gelähmten bei Bewegungen  
  Es klingt wie Science-Fiction: Erstmals wurden Querschnittgelähmten Elektroden direkt ins Hirn gepflanzt, mit deren Hilfe sie Armprothesen bewegen können. Das neue "Brain-Computer-Interface" (BCI) verbindet bestimmte Gehirnareale mit externen Geräten, berichtet ein internationales Forscherteam mit österreichischer Beteiligung.  
Forschungsleiter ist John Donoghue von der Brown-Universität in New Providence, aber auch der Grazer Neurochirurg Gerhard Fries ist mit im Team.

Gemeinsam gelang ihnen an Menschen, was bisher nur aus Affenversuchen bekannt war: die direkte Implantierung von 96 Elektroden ins Gehirn und der erfolgreiche Einsatz von so genannten neuromotorischen Prothesen für Personen mit Tetraplegie - also Querschnittsgelähmten, bei denen alle vier Gliedmaßen betroffen sind.
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Die Studie "Neuronal ensemble control of prosthetic devices by a human with tetraplegia" ist in "Nature" (Bd. 442, S. 164, Ausgabe vom 13. Juli 2006) erschienen.
->   Abstract in Nature
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Stark-invasive Methode
 
Bild: Nature

"Nature"-Cover mit einem der beiden Patienten.

Der österreichische BCI-Pionier Gert Pfurtscheller von der TU Graz zeigt sich von den Erfolgen seiner Kollegen nicht überrascht. Allerdings handle es sich um eine stark-invasive Methode, die also massiv in den Körper der Patienten eingreift.

Bei besonders stark betroffenen Menschen sei dies sinnvoll, meinte er gegenüber science.ORF.at. Etwa bei jenen, die komplett von einem "Locked-in-Syndrom" betroffen sind, die also ohne jegliche Kommunikationsmöglichkeit mit der Außenwelt sind.
Alternative: EEG
Er selbst arbeitet seit Jahren mit seinem Team an einer weit weniger invasiven Variante eines "Brain-Computer-Interface" und registriert die Hirnaktivität mit Hilfe von Elektroenzephalogrammen (EEG).

Dabei werden elektrische Spannungen an der Kopfoberfläche gemessen, welche durch die Aktivität des Gehirnes erzeugt werden.

Diese Signale werden umgewandelt und können zur Kommunikation mit der Umwelt genutzt werden - etwa zur Steuerung eines Computer-Cursors oder der Bewegung einer Armprothese.
->   Mehr dazu in einem Gastbeitrag von Gert Pfurtscheller (22.8.03)
Gedankengesteuerte Handprothese
Die gleichen Resultate brachte nun die Arbeit von Donoghue, Friehs und Kollegen. Einem 25-jährigen und einem 55-jähriger Mann, die nach Unfällen gelähmt sind, wurden Elektroden direkt in den so genannten Motorkortex im Hirn implantiert.

Es gelang ihnen, mit einer gedankengesteuerten Handprothese Bonbons aufzuheben und den Forschern in die Hand zu legen. Auch Computerprogramme konnten sie alleine durch die Kraft ihrer Gedanken bedienen.
->   Videos zu der "Gedankenkontrolle"
Ziel: "Wiederbelebung" der eigenen Gliedmaßen
 
Grafik: Nature

Grafische Darstellung der Versuche

Als nächstes Ziel peilt das Team um Donoghue an, Rollstühle sowie Arm- und Beinprothesen über Befehle aus dem zuständigen Zentrum in der Hirnrinde ihrer Patienten anzutreiben.

Langfristig hoffen die Neurologen, ihr Gerät mit einem System zu kombinieren, das die Muskeln zu Bewegungen anregt und Querschnittsgelähmten den Einsatz der eigenen Gliedmaßen ermöglichen könnte.
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Drei Haupterkenntnisse
Die Forscher schreiben in "Nature" von drei Haupterkenntnissen: Die Aktivität im Bewegungszentrum des Hirns bleibt trotz einer Querschnittslähmung erhalten. Signale von Nervenzellen in diesem Bereich des menschlichen Hirns können aufgezeichnet, auf ein externes Gerät übertragen und in Befehle übersetzt werden. Und drittens können gelähmte Patienten externe Geräte wie die Fernbedienung eines Fernsehers, den Cursor eines Computers oder eine Prothese mit der Kraft ihrer Gedanken direkt und erfolgreich kontrollieren.

Ein zweiter Artikel ("A high-performance brain-computer interface", S. 195) in derselben Ausgabe des Wissenschaftsjournals von diesem Donnerstag berichtet über Tierversuche, bei denen die Geschwindigkeit der Gedankenübertragung vom Hirn auf Prothesen vervierfacht wurde.
->   Abstract in Nature
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Optisches Brain-Computer-Interface
Gerd Pfurtscheller und sein Team arbeiten derweil an einer neuen Generation nicht-invasiver Techniken. Beim "optischen Brain-Computer-Interface" sorgt das Zusammenspiel von Lichtquellen und -detektoren für die Messung des Blutflusses im Gehirn, woraus man auf die Aktivität der Nervenzellen rückschließen kann.

Der Nachteil des optischen BCI im Vergleich zu den Direkt-Implantaten der Elektroden im Gehirn: Durch die indirekte Messung ist die Reaktionszeit viel länger, das entstehende Signal "schlechter".
Mittel vom Militär
Dafür sind die Anwendungsbereiche wie bei der EEG-Methode auch andere, meint Pfurtscheller gegenüber science.ORF.at: Durch Feedbacktraining könnten z.B. Epileptiker die Anzahl ihrer Anfälle reduzieren.

Pfurtscheller, der jede seine Forschungen von der Ethikkommission der Grazer Universität genehmigen lässt, betont auch die Hintergründe der jüngsten Forschungsergebnisse: Diese seien u.a. durch Mittel aus dem Militär finanziert worden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 13.7.06
->   Tetraplegie (Wikipedia)
->   Laboratory of Brain-Computer Interfaces, TU Graz
->   Brown University
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Patient erwacht nach 19 Jahren Dämmerzustand (4.7.06)
->   Brain-Computer-Interface gegen Querschnittlähmung (14.10.03)
->   Forscher entwickeln erste Hirnprothese (12.3.03)
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Ö1-Radio-Hinweis: Hirnforscher Wolf Singer "Im Gespräch"
Embodyment, Society of Brains - Schlagworte aus der neueren Hirnforschung. Es geht nicht mehr nur darum, welche Hirnregionen wann aktiv sind. Was unser Gehirn leistet, hat viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben.

Michael Kerbler hat den Neurophysiologen Wolf Singer, er ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, eingeladen, mit ihm diese brisanten Fragen zu diskutieren.

Termin: 13. Juli 2006, 21:01 Uhr, Radio Österreich 1
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
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01.01.2010