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Die Null und mathematische Unsicherheiten  
  Anschaulich betrachtet steht die Null für "Nichts". Für die Gelehrten der Antike existierte die Null nicht, erst die Araber führten die Null als eigenständige Zahl und Ziffer in ihr Zahlensystem ein. Welche Gründe sich hinter der späten Einführung der Null verbergen und mit welchen mathematischen "Unsicherheiten" sich die großen Denker konfrontiert sahen, erläutert der Mathematiker Rudolf Taschner in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2006 ein Seminar dazu.  
Die Null als Symbol des Verlusts mathematischer Sicherheit
Von Rudolf Taschner

Es ist höchst erstaunlich, dass die Gelehrten der Antike, welche zurecht als Erfinder der exakten Mathematik gelten und deren Leistungen - man denke nur an die stupende Genialität des Archimedes, der mit Hebeln Schiffe zum Kentern brachte oder mit Parabolspiegeln deren Segel entzündete - uns heute noch Bewunderung abverlangen, keine Null kannten.

Ist es Zufall, ein lächerliches Übersehen des Nichts, für das die Null steht? Oder steckt hinter dem Ignorieren der Null etwas Tiefes? Birgt die Null ein Geheimnis, das zu lüften die Denker der Antike scheuten?
Zurück zum Ursprung: Die Musik ...
Der Ursprung der Mathematik mag Aufschluss darüber geben. Ihr Beginn bei den Pythagoräern ist eng mit den Ursprüngen der europäischen Musik verwoben: Die Griechen erkannten, dass die Halbierung einer Saite die Oktave des Grundtons erklingen lässt.

Wenn man die Saite auf zwei Drittel ihrer Länge verkürzt, hört man die Quint, und wenn man die Saite auf drei Viertel ihrer Länge verkürzt, hört man die Quart. So definieren die Verhältnisse 1:2, 2:3, 3:4 die harmonischsten aller musikalischen Intervalle.

Musik, davon waren die Pythagoräer überzeugt, ist Wahrnehmung von Zahlen durch das Ohr. Die harmonischen Zahlenverhältnisse, zur Melodie eines Liedes komponiert, können uns bis zu Tränen rühren und sprechen unmittelbar zur Seele.

Philolaos, ein Schüler des Pythagoras, fasst diese Einsicht in wunderbare Worte: Die Seele sei die Zahlenharmonie des Körpers, sie gehöre zu ihm wie die Töne zum Musikinstrument, das sie hervorbringt.
... und die Wahrnehmung von Zahlen in Harmonie
Von dieser Erkenntnis besessen, suchten die Pythagoräer Zahlenverhältnisse in allem und jedem. So nahmen sie an, die Abstände der Planetensphären folgten in harmonischen Verhältnissen ganzer Zahlen aufeinander, sodass durch die ewige Bewegung der Sphären die nur den Göttern vernehmbare "Sphärenmusik" ertönt.

Oder sie vermuteten aufgrund sehr verwickelter Argumente, dass sich die Seelen befreundeter Menschen zueinander wie 220 zu 284 verhalten.
Die "Ordnung" - Schönheit der Verhältnisse
Das Universum ist den Griechen ein "Kosmos" - wörtlich übersetzt: "Ordnung", "Schmuck" - weil es als harmonisches Ganzes erfahren wird.

Diese Ordnung teilt sich dadurch mit, dass die Proportionen stimmen: Es sind Zahlenverhältnisse, die das Wesen des Kosmos kennzeichnen.

Somit ist die Empfindung von Schönheit, d.h. die Erkenntnis, dass die dem jeweiligen Gegenstand angemessenen Verhältnisse gewahrt sind, das eigentliche Kriterium für Wahrheit - ein noch für Physiker wie Heisenberg faszinierender Gedanke.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Zu diesem Thema werden beim Europäischen Forum Alpbach 2006 zwei führende Experten - Rudolf Taschner von der Technischen Universität Wien und Dirk van Dalen von der Utrecht University - das Seminar "Certainty in Logic and Mathematics" (17.-24.08.2006) leiten. science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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Griechen konnten keine Null akzeptieren
Im griechischen Kosmos hat die Null nichts zu suchen. Denn Zahlenverhältnisse, in denen Null vorkommt, sind paradox: Das Verhältnis von Null zu Eins ist das gleiche wie das von Null zu Tausend, nämlich immer Null, und demnach muss das Verhältnis von Eins zu Null das gleiche wie das von Tausend zu Null sein - purer Unsinn: Tausend unterscheidet sich doch himmelhoch von Eins!

Hätten die Griechen Null als Zahl akzeptiert, ihr von Zahlenverhältnissen gebändigter Kosmos wäre explodiert.
Null hat sich als "Krücke" eingeschlichen
Tatsächlich schlich sich die Null verstohlen ein, wie ein Dieb in der Nacht: Bei astronomischen Tafeln des Ptolemäus, die um 150 n. Chr. erstellt wurden, taucht sie auf.

In ihnen werden Zahlen in dem von den Babyloniern erdachten Ziffernsystem geschrieben. Aber diese notierten - modern geschrieben - für dreizehn und für tausenddrei noch das gleiche Symbol, nämlich 13; bei ihren Rechenaufgaben ergab sich aus dem Zusammenhang, welche der Möglichkeiten - dreizehn, hundertdrei, tausenddrei, ... - dieses Symbol eigentlich meint.

Doch wenn Leporello singt, 13 Spanierinnen seien Don Giovanni verfallen, ist es nicht unerheblich, ob es sich dabei um "tredici" oder um "mille e tre" handelt - und bei den nüchternen Zahlen, die beim Vermessen der Sterne auftauchen, ist es das gleiche.

Darum schrieb Ptolemäus 13 für dreizehn, 1o3 für hundertdrei und 1oo3 für tausenddrei: der kleine Kreis o als Abkürzung des griechischen "oudén", das "nichts" bedeutet, symbolisiert, dass am jeweiligen Stellenwert eben nichts zur Zahl hinzukommt.
Die Null als eigenständige Größe
Nichts als solches zu symbolisieren, ist ein der abendländischen Antike völlig abwegiger Gedanke. Ein indischer Gelehrter dürfte es gewesen sein, der die Null als eigenständige Größe, also nicht bloß wie bei Ptolemäus als Krücke zur Zahlendarstellung, erdachte.

Vielleicht war es die Reaktion auf die überbordende Flut von Göttern im indischen Universum - hinter jedem Baum, unter jedem Blatt, in jeder Ritze verbarg sich eine andere Gottheit -, die als Gegenwehr den befreienden Gedanken einer Leere, eines Nichts, eben der Null, hervorrief, ähnlich wie Buddha auf den erlösenden Gedanken des Nirwana verfiel.
Null: Ziffer und Zahl
Wie dem auch sei: Die Araber kannten die Null sowohl als Ziffer - das Wort "Ziffer" kommt aus der arabischen Bezeichnung "sifra" für Null -, als auch als eigenständige Zahl.

Papst Sylvester II. übernahm als einer der ersten Europäer die arabischen Zahlen, wusste aber mit der ihm widernatürlich scheinenden Null noch nichts Rechtes anzufangen.

Erst die Rechenmeister der Renaissance lernten, welchen Vorteil dieses eigenartige Symbol mit sich brachte: Im Handel konnten sie so ein ausgeglichenes Konto bezeichnen, und vor allem bildete die Null das Tor zu den negativen Zahlen, den Zahlen "unter Null", mit denen sie sehr effektiv die Bilanz von Soll und Haben ausdrückten.

Die geheimnisumwitterte Null verkümmerte zur banalen Rechengröße der Kaufleute und Bankiers.
Leibniz: Null ist "verschwindend wenig"
Erst später fragte man sich, wie mit der Null beim Bilden von Zahlenverhältnissen zu verfahren sei. Denn die Widersprüche, derentwegen die Griechen die Null nicht einmal erwähnten, bleiben bestehen.

Leibniz versuchte ihnen dadurch beizukommen, dass er die Null nicht als das völlige Nichts verstand: es sei nicht die absolute Leere, nur "verschwindend wenig".

Im Verhältnis zu einer Million oder gar zu einer Milliarde Euro ist ein Cent nichts wert - nur Dagobert Duck flucht über den Verlust eines Kreuzers, und wir amüsieren uns darüber, weil er in Wahrheit praktisch null verloren hat.
Basis für Differenzialrechnung
Das völlig ungezähmte Verhältnis Null durch Null wurde damit in Fesseln zu schlagen versucht: Obwohl ein Cent im Vergleich zu einer Million, gar zu einer Milliarde Euro praktisch null ist, sind diese Nullen - obwohl, von außen betrachtet, beide verschwindend gering - in sich doch um ein Tausendfaches verschieden.

Je nachdem, welche der verschiedenen schillernden, unwägbaren Winzigkeiten in Null stecken, kann sich aus 0:0 alles ergeben: Tausend genauso wie Eins oder ein Tausendstel.

Die von Leibniz erschaffene Differentialrechnung teilte für den Praktiker brauchbare Regeln mit, dem absurden Verhältnis 0:0 beizukommen, wenn es "in der Natur" so genannte Differentialquotienten zu berechnen gilt.

Wenn heute Techniker von "Geschwindigkeiten", Biologen von "Wachstumsraten", Ökonomen von "Grenzerträgen" sprechen, stecken hinter all diesen Begriffen Differentialquotienten, nach einem eigenartigen Kalkül ermittelte Verhältnisse von Nullen.
0:0 - Geistige Grundlage des Barock
Gilles Deleuze argumentierte, dass Leibniz im bizarren Verhältnis 0:0 die "Falte" sah: die Beziehung einer Monade zu sich, aus der sich Verschiedenstes zu entwickeln vermag. Damit bricht in der europäischen Geistesgeschichte die Moderne an: Die von den Griechen entworfene Welt mit fest gefügten Zahlenverhältnissen zerbricht in Beliebigkeit, das Weltbild verliert den Anspruch an Absolutheit, es ist dem Einzelnen anheim gestellt.

Und so erklärt es sich, dass das Barock - das italienische "barocco" bedeutet "schwülstig" und das portugiesische "barroco" steht für "sonderbar", "unregelmäßig" - die in der Renaissance wiederbelebten antiken harmonischen Proportionen über Bord wirft: Leibniz schafft mit seiner Deutung von 0:0 die geistige Grundlage des Barock und aller weiteren geistigen Strömungen der Moderne.
Der Umbruch im Denken
Etwa zwei Jahrhunderte dauerte die Phase, bis das reflektierende Denken den Einbruch der Moderne vollends wahrnahm, eine Zäsur vergleichbar mit jener zwischen dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis und dem Hinauswurf aus dem Paradies: Zwar nahm sich schon Bach die Freiheit, Töne chromatisch zu setzen - die letzte Fuge aus dem ersten Teil des "Wohltemperierten Klaviers" belegt es -, aber immer noch bleiben 200 Jahre lang die Musiker dem Ideal der von pythagoräischen Zahlenverhältnissen definierten Tonalität verhaftet, bis spätestens Schönberg dies als verlorenes Paradies dekretierte.

Zwar zerbrechen schon die Gemälde Turners die nach akademischen Regeln gezogenen Linien als Ideal des Abbilds der harmonischen Wirklichkeit in ein Chaos von Farbe und Licht, aber erst mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts vollzog sich endgültig die Sezession der Künstler vom klassischen Ideal einer von der Antike tradierten "Schönheit".
Zäsur in der Mathematik
Eine ganz ähnliche Zäsur widerfuhr der Mathematik. 200 Jahre lang waren sich die Gelehrten nicht im Klaren, wie der Zusammenhang zwischen den von Leibniz erdachten verschwindend kleinen Größen und der "absoluten" Null zu fassen ist.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man - und dies ist Ausdruck der Moderne in extremis - die Lösung darin zu finden, was Wittgenstein ein Sprachspiel nennt: Die Null ist gar nicht Symbol der Leere, sie ist die gähnende Leere selbst, eine verschlingende Leere, die alle anderen Zahlen in ihren bodenlosen Abgrund reißt, ein "nichtendes" Nichts. Von Null, ja von Zahlen überhaupt zu sprechen, ist eine bloße façon de parler - ähnlich wie eine Dame im Schachspiel, aller weiblichen Züge beraubt, nichts anderes als eine wertlose Figur auf dem Schachbrett ist.

Und wie Bauern und Könige im Schach weder Felder bestellen noch Länder regieren, sondern nur stumme Statisten, starre Steine in der Hand von Spielern sind, so ist es auch mit der modernen Mathematik bestellt: Ihre Kalküle handeln von nichts sagenden Zeichen, ihre Sätze beziehen sich auf nichts Wirkliches, ihre Probleme betreffen ein Denken, das autistisch um sich selbst kreist.
Die "konstruktiven" Mathematiker ...
Nur eine verschwindend kleine Gruppe so genannter "konstruktiver" Mathematiker überwindet das sinnlose Sprachspiel, indem sie - den eminenten Gelehrten Brouwer und Weyl folgend - die Mathematik bewusst der Dialektik zwischen dem griechischen Ideal des absoluten Wahrheitsanspruchs und der modernen Dekonstruktion aussetzt.

Wenn noch einmal die Parallele zur Musik bemüht werden darf: Die Konstruktivisten setzen, metaphorisch ausgedrückt, auf Guldas Cellokonzert statt auf Schönbergs Bläserquintett op. 26.
... und die Anderen
Für die meisten Mathematiker jedoch ist mit der Botschaft, moderne Mathematik bestehe aus leerem Gerede, das letzte Wort gesprochen.

Und es ist wundersam zu beobachten, wie sie sich in der ihnen verbliebenen Ruine wohl fühlen, wie der von der Null ausgehende Sog ins Sinnlose die davon Betroffenen mit Behagen erfüllt.

[1.8.06]
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Der Autor des Gastbeitrags
Rudolf Taschner, Jahrgang 1953, studierte an der Universität Wien, lehrt seit 1977 an der Technischen Universität Wien und absolvierte nach dem Doktorat einen Forschungsaufenthalt an der Stanford University. Er ist Professor am Institut für Analysis und Scientific Computing an der Technischen Universität Wien und betreibt den 2003 im Wiener MuseumsQuartier eröffneten "math.space". Rudolf Taschner ist Autor von zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Lehrbüchern für Universität und Gymnasien sowie von Sachbüchern, zuletzt "Der Zahlen gigantische Schatten", erschienen bei Vieweg. Der Club der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten Österreichs wählte Rudolf Taschner zum "Wissenschafter des Jahres 2004".
->   "math.space"
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01.01.2010