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Kulturelle Differenzen: Produkt von Gehirnparasiten?  
  Ein US-Forscher vertritt die provokante These, dass kulturelle Unterschiede zwischen Nationen unter anderem durch Parasitenbefall erklärt werden könnten. Er fand heraus, dass Gesellschaften, in denen viele Menschen mit dem Einzeller Toxoplasma gondii infiziert sind, eher zu Neurotizismus neigen.  
Aus Studien an Nagetieren weiß man jedenfalls, dass der Gehirnparasit das Verhalten seiner Wirte verändert. Das könnte im Prinzip auch für den Menschen gelten.
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"Can the common brain parasite, Toxoplasma gondii, influence human culture?" von Kevin D. Lafferty erscheint in den "Proceedings of the Royal Society B" (doi: 10.1098/rspb.2006.3641).
->   Abstract
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Parasit verursacht Toxoplasmose
Könnte eine Infektionskrankheit die Persönlichkeit von Menschen beeinflussen und somit für kulturelle Unterschiede zwischen Nationen verantwortlich sein? Der postulierte Zusammenhang scheint weit hergeholt, doch der US-amerikanische Ökologe Kevin D. Lafferty hat Daten gesammelt, die darauf hinweisen, dass an der These etwas dran sein könnte.

Lafferty untersuchte epidemiologische Daten über die Toxoplasmose, eine parasitäre Infektionskrankheit, die vom Einzeller Toxoplasma gondii verursacht wird. Zwar dienen T. gondii Katzen als Endwirte - beispielsweise in Mitteleuropa Hauskatzen, Wildkatzen und Luchse.

Dennoch befällt der Einzeller auch andere Spezies: Bis dato wurden rund 60 Vogel- und 300 Säugetierarten als Zwischenwirte nachgewiesen, darunter auch der Mensch. In diesen bildet T. gondii Gewebezysten - u.a. im Gehirn -, die darauf warten, ihren Reproduktionszyklus im Endwirt beenden zu können.
->   Toxoplasma gondii - Wikipedia
Verhalten von Nagern manipuliert
Interessant daran ist, dass die Zysten offenbar nicht auf der faulen Haut liegen und auf eine sich zufällig bietende Möglichkeit für einen Wirtswechsel hoffen, sondern ihr Schicksal aktiv beeinflussen. Und zwar, indem sie das Verhalten ihrer Zwischenwirte manipulieren. Aus Studien an Nagetieren weiß man beispielsweise, dass mit T. gondii infizierte Tiere aktiver sind, häufiger Fallen betreten und weniger Angst vor Katzen und ihrem Körpergeruch aufweisen.

Der Sinn dahinter ist klar: Eine Maus stellt für T. gondii eine Sackgasse in Sachen Vermehrung dar, daher liegt es im Interesse des Parasiten, wenn der infizierte Nager von einer Katze gefressen wird.

Fragt sich nur: Wie schafft es der Einzeller, das Verhalten des Zwischenwirts so drastisch zu verändern? Definitive Antworten gibt es diesbezüglich noch nicht, aber man hegt zumindest eine Vermutung: Der Wirt dürfte auf die Anwesenheit der Gewebezysten mit einer Immunantwort reagieren, die u.a. den Gehalt von Neuromodulatoren im Gehirn verändert, was in weiterer Folge zur vermehrten Ausschüttung von Dopamin führen kann.
Auch beim Menschen möglich?
Kevin D. Lafferty betont an dieser Stelle, dass ähnliche Prozesse auch im Gehirn infizierter Menschen stattfinden könnten. Beispielsweise weiß man aus neurologischen Studien, dass der Transmitter Dopamin tatsächlich mit Neugierdeverhalten und Neurotizismus zu tun hat.

Kleiner Schönheitsfehler des Arguments: Katzen essen ziemlich selten Menschen. Womit etwaige Verhaltensänderungen bei Menschen wohl ihr Ziel verfehlen würden.

Dennoch ist nicht auszuschließen, dass T. gondii auch bei Homo sapiens von solchen manipulativen Strategien Gebrauch macht. Denn evolutionär gesehen, schreibt Lafferty, hätten die Gewebezysten im menschlichen Gehirn "nichts zu verlieren".
Unterschiedliche Infektionsraten
Womit wir wieder bei der Eingangsfrage angelangt sind: Könnten gewisse Charakteristika nationaler Kulturen auf den Einfluss eines Parasiten zurückzuführen sein? Für die Hypothese spricht, dass der Infektionsgrad mit T. gondii regional sehr unterschiedlich ist. In Großbritannien und Norwegen liegt er bei sieben bzw. neun Prozent, in Brasilien und dem Balkan sind hingegen zwei Drittel der Bevölkerung infiziert.
Zusammenhang von Infektion und Neurotizismus
Eine statistische Analyse von Lafferty zeigt indes, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Parasiten und gewissen Persönlichkeitsfaktoren besteht: Gesellschaften, die eine hohen Anteil Infizierter aufweisen, erreichen auch höhere Werte bei Persönlichkeitstests bezüglich Neurotizismus.

Zusammenhänge, wenn auch weniger ausgeprägt, gibt es außerdem bei zwei Faktoren, die vom Niederländer Geert Hofstede eingeführt wurden, um das gesellschaftliche Klima in Kulturgruppen zu charakterisieren: Gesellschaften mit vielen Infizierten weisen eine tendenziell geringere Risikobereitschaft (bzw. höhere "uncertainty avoidance") auf und orientieren sich daher vermehrt an vorgegebenen Regeln. Und sie sind, in der Terminologie von Hofstede, eher "maskulin" - d.h., sie halten eher an traditionellen Geschlechterrollen fest.
Nicht-zufällige Korrelationen?
Das sind, wohlgemerkt, lediglich Korrelationen, die nichts über die kausale Beziehung der untersuchten Größen aussagen. Im Prinzip könnte es auch so sein, dass nicht Infektionen Persönlichkeitsmuster beeinflussen, sondern umgekehrt psychische Faktoren das Risiko von Infektionen. Ebenso denkbar wäre, dass die Korrelationen durch Zufall zustande gekommen sind.

Laffertys Interpretation hat allerdings einen Vorteil: Geert Hofstede fand vor einigen Jahren heraus, dass Gesellschaften aus wärmeren Klimaten tendenziell größere Unterschiede der Geschlechterrollen aufweisen.

Das würde zu der Tatsache passen, dass T. gondii empfindlich gegenüber Temperaturschwankungen ist und daher besonders gut in humiden Regionen gedeiht.

Robert Czepel, science.ORF.at, 2.8.06
->   Website von Geert Hofstede
->   Website von Kevin D. Lafferty
 
 
 
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01.01.2010