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Internet fördert Diskussionskultur nur teilweise  
  Das Internet, allen voran E-Mail und World Wide Web, hat das Kommunikationsverhalten der Menschen dramatisch geändert. Doch wurde es tatsächlich auch "demokratischer" und offener, wie vielfach behauptet?  
Der Sozialwissenschaftler Bernard Manin von der Pariser "Ecole des Hautes Etudes" und der Politologe und Post-Doc Azi Lev-On von der University of Philadelphia kommen in einem aktuellen Artikel zu einem ambivalenten Befund.

Einerseits begünstige die Struktur des Internets die Kommunikation von Gleichgesinnten und verringere somit den Kontakt von Andersdenkenden.

Andererseits sei eben diese Struktur noch immer so fehleranfällig, dass viele mit Meinungen konfrontiert werden, die sie gar nicht gesucht haben - und so vielleicht erst recht in ihrem Weltbild erschüttert werden.
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Ihr Text "Internet : la main invisible de la délibération" ist ursprünglich in dem französischen Journal "Esprit" (Mai 2006) erschienen, eine englischsprachige Übersetzung wurde vor kurzem unter dem Titel "Happy Accidents" auf dem Online-Zeitschriften-Netzwerk "Eurozine" veröffentlicht.
->   Der Artikel bei "Eurozine"
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Diskussion braucht verschiedene Standpunkte
Damit Kommunikation demokratisch abläuft, braucht es zweierlei: Die Beteiligung möglichst vieler Menschen, aber auch die Auseinandersetzung mit Standpunkten, die nicht die eigenen sind.

In der klassisch liberalen Ausgangsposition ist es vor allem die Konfrontation verschiedener oder - wie die beiden Wissenschaftler betonen, noch wichtiger: - entgegen gesetzter Argumente, die zum besten Ergebnis auf dem "Markt der Ideen" führt.
Lust zu Argumentieren aber wenig verbreitet
Die Bereitschaft, sich mit den Meinungen anderer Menschen auseinanderzusetzen, ist allerdings nur gering ausgeprägt.

Die Sozialwissenschaft nennt diese Tendenz "Homophilie" - der Wunsch, sich lieber mit Seinesgleichen zu treffen und die Konfrontation mit anderen Einstellungen und Verhaltensweisen, die das eigene Denken möglicherweise in Frage stellen, zu minimieren.
Mehr Meinungsvielfalt, mehr Demokratie
Das demokratische Potenzial eines Mediums liegt deshalb laut Manin und Lev-On u.a. in der Wahrscheinlichkeit, sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen zu müssen und daraufhin die eigenen unter Umständen zu überdenken.

Unter diesem Gesichtspunkt tragen sie eine Reihe empirischer Daten über die Nutzung des Internets zusammen.

Dabei unterscheiden sie zwei Faktorengruppen: jene, die die Konfrontation mit anderen Meinungen eher ermöglichen, und jene, die das genaue Gegenteil bewirken.
Virtuelle Clubs verstärken Homogenität
Zu der ersten Gruppe, den "Faktoren der Homogenität", gehören virtuelle Gemeinschaften - Mailinglisten, Clubs oder andere Vereinigungen, in denen sich Gleichgesinnte gezielt treffen. Mindestens 84 Prozent aller Internet-User sind in mindestens einem dieser Gemeinschaften vertreten.

Der Grund ist klar: Ohne lange suchen zu müssen, wird man hier mit den gewünschten Informationen und Gesprächspartnern versorgt - ob es sich jetzt um gemeinsame Hobbies, Reiseerfahrungen oder politische Diskussionen handelt (wobei letztere relativ am seltensten vorkommen).
Höhere Gruppenidentität, mehr Stereotype
Computer-vermittelte Kommunikation, so die Forscher in Bezugnahme auf frühere Studien, kann dabei den normativen Druck innerhalb von Diskussionsgruppen erhöhen, d.h. die Meinungen noch stromlinienförmiger und einheitlicher machen als in anderen Gruppen.

Die nicht gerade intuitive Ursache: Gerade weil bei anonymen Diskussionen im Internet eine Reihe von Kommunikationssignalen aus der Offline-Welt fehlen - etwa persönliche Bilder oder der Klang der Stimme -, werden die übrigen Signale besonders stark beachtet.

Und genau das kann zu einer stärkeren Gruppenidentität, mehr Stereotypen und Vernachlässigung von Minderheits-Meinungen führen.
Homogene Information durch Filter und Links
Ein zweiter Faktor für mehr Homogenität in der Kommunikation im Internet liegt in der Möglichkeit, Information zu filtern. Viele Webseiten bieten personalisierte, auf die eigenen Vorlieben zugeschnittene Informationen an.

Oder es gibt - wie z.B. bei kollaborativen Blogs - ein Bewertungssystem, das aus einer Vielzahl von Einträgen die beliebtesten und vertrauenswürdigsten hervorhebt. Das ist zwar einerseits sehr praktisch, macht Außenseiter-Positionen aber tendenziell unsichtbar, wie die Forscher schreiben.

Einen dritten Faktor der Gleichmacherei sehen Manin und Lev-On in den "ideologisch homogenen Links" von Webseiten. Hyperlinks sind für sie Formen der Konversation im Internet, die Anerkennung sowie Legitimität vermitteln und zum allergrößten Teil "homophil" sind. D.h., Seitenbetreiber mit bestimmten Meinungen verlinken nur äußerst selten auf Seiten mit entgegen gesetzten Positionen.
Dennoch Diskussionen - dank "System-Unfällen"
Die meisten Menschen, so die Sozialwissenschaftler, suchen absichtlich nicht nach "fremden Meinungen". Und die Struktur des Internets hilft ihnen dabei. Das heißt aber auch, dass sie unbeabsichtigt sehr wohl mit anders denkenden Menschen konfrontiert werden - denn das System ist in dieser Hinsicht durchaus "fehleranfällig".

Und daraus entstehen die für demokratische Überlegungen wichtigen "glücklichen Unfälle" der Kommunikation, die dem Artikel auch den Titel gegeben haben.

Dazu gehören z.B. eigentlich nicht-politische Portale mit großen User-Zahlen, in deren Foren dennoch politisch diskutiert wird. Manin und Lev-On nennen die Website "Slashdot", die eigentlich Computer-Nerds anzieht, aber im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl 2004 zu einem Zentrum politischer Diskussionen wurde.
"Maßschneiderei" funktioniert - noch - nicht
Zu den Diskurse fördernden Eigenschaften des Internets gehören aber auch die Einfachheit der Kommunikation an sich und die bis jetzt existierende Unmöglichkeit, tatsächlich "persönlich maßgeschneiderte" Umgebungen zu schaffen.

Wer sich etwa auf einer Website für Katzenliebhaber befindet und hier glaubt, vor politischen Diskussionen in Sicherheit zu sein, wird möglicherweise bitter enttäuscht. Oppositionelle Meinungen können "überall lauern" - nicht zuletzt hinter den Treffern von Suchmaschinen, die die beliebtesten Ausgangspunkte ins WWW darstellen.

Insgesamt kommen Bernard Manin und Azi Lev-On also zu einem ambivalenten Befund, was die Wirkung des Internets auf demokratische Kommunikation betrifft. Wie bei jeder anständigen Studie verweisen sie darauf, dass allerdings noch weitere Forschung nötig ist, um diese Fragen zu klären.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.8.06
->   Esprit
->   Bernard Manin (New York University)
->   Azi Lev-On (New York University)
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->   Internet wird "persönliche Kontakte nicht ersetzen (31.5.06)
->   Studie: Webseiten-Besitzer sind meist introvertiert
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01.01.2010