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Heiliges Römisches Reich: Ende vor 200 Jahren  
  Als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches niederlegt, löst sich ein Herrschaftsgebilde auf, das über 1.000 Jahre lang die europäische Geschichte geprägt hat. An seiner Stelle trat nun die Idee des modernen Nationalstaats ihren Siegeszug an.  
200 Jahre nach der "Zeitenwende 1806" interessieren sich Politiker und Wissenschaftler wieder verstärkt für das Heilige Römische Reich.

Im Zentrum der Auseinandersetzung mit seinem Erbe steht dabei die umstrittene Frage, inwieweit das multiethnische, multikonfessionelle und dezentral organisierte Reich erste Ansätze für ein übernational und föderal organisiertes Europa entwickelt hat.
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Radio-Hinweis
Anlässlich des 200. Jahrestages des Endes des Heiligen Römischen Reiches gehen die Ö1-"Dimensionen" der Bedeutung des Reiches in der europäischen Erinnerungskultur nach.
Datum: Montag, 7. August 2006, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.

Auch "Betrifft Geschichte" widmet sich vom 7. August an eine Woche lang dem "Alten Reich" - jeweils um 17.55 Uhr, Radio Österreich 1.
->   oe1.ORF.at
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1806: Ende einer Epoche
Bild: Universitätsbibliothek Heidelberg
Codex Manesse: Kaiser Heinrich VI.,
1. Hälfte des 14. Jahrhunderts
Französischen Revolutionären galt es als letzte Bastion der feudalen Herrschaftsordnung in Europa, Napoleons Machtstreben sollte es endgültig in die Krise stürzen: Am 6. August 1806 endet die über 1.000 Jahre alte Geschichte des Heiligen Römischen Reiches.

Als Napoleon im Juli 1806 mit der Gründung des Rheinbundes wichtige Reichsfürstentümer aus dem Verband des Reiches herauslöst, reagiert Kaiser Franz II., der bereits 1804 auch den Titel eines Erbkaisers von Österreich angenommen hatte, mit dessen Auflösung.

Dass es sich dabei um einen einseitigen Rechtsakt handelte - der Reichstag stimmte nämlich nicht zu -, störte im kriegsgeschüttelten Europa nur wenige.
Das Reich als "Erbe" des weströmischen Reiches
Während sich das Ende des Heiligen Römischen Reiches genau datieren lässt, tut man sich mit der Bestimmung seines Beginns schwerer. So etwas wie ein klarer "Gründungsakt" fehlt dem Reich, dessen Bildung sich als längerer Prozess gestaltete.

Dennoch ist es üblich geworden, seinen Anfang mit einem markanten Datum anzusetzen: Der Krönung Kaiser Karls des Großen zum Römischen Kaiser im Jahr 800.

Am Anfang des Reiches steht damit weniger ein Neubeginn als vielmehr die Fortsetzung einer alten Tradition: Karl der Große schloss bewusst an das Erbe des weströmischen Reiches an, das vor 300 Jahren ausgelaufen war. So bekam auch seine Herrschaft zusätzliches Gewicht.
Grenzen im Wandel
Versucht man, das Heilige Römische Reich mit einem modernen Staat oder Staatenbund zu vergleichen, scheitert man allein schon an den flexiblen und sich ständig wandelnden Grenzen dieses Gebildes.

Deutschland, Italien und Burgund bildeten seit dem 11. Jahrhundert die Kernterritorien des Reiches. Doch seine Grenzen reichten schon im Mittelalter von der Nordsee bis ans Mittelmeer, vom Rhein und der Maas bis in den istrischen Raum, später dann auch bis hin nach Böhmen.
Komplexe Organisationsstruktur
Bild: KHM Magdeburg KHM/ Reinhard Hentze
Eheporträt Maximilians I. und Marias von Burgund (nicht vor dem späteren 16. Jhdt.)
Auch von seiner rechtlich-organisatorischen Struktur her lässt sich das Reich schwer mit heutigen staatlichen Formationen vergleichen. Bis zu seinem Ende war es ein Lehensreich; das heißt, persönliche Beziehungen zwischen dem Lehensherrn und dem Lehensmann spielten eine zentrale Rolle bei der Reichsorganisation.

Am besten kann man sich das Reich als eine Art "Dachverband" vorstellen, der dem Zusammenleben verschiedener Landesherren einen rechtlichen Rahmen vorgab. Die quasi selbstständigen, juristisch aber nicht souveränen Fürsten- und Herzogtümer erkannten den Kaiser als Reichsoberhaupt an.

Sie waren einerseits an die Reichsgerichtsbarkeit und an die Beschlüsse des Reichstags gebunden. Andererseits konnten sie durch Königswahl, die Teilnahme an den Reichstagen und an anderen ständischen Vertretungen die Reichspolitik wesentlich mitgestalten.
Rechtsschutz und Friedenssicherung
Die Hauptaufgabe des Reiches lag im Rechtsschutz und in der Friedenssicherung; Expansionsbestrebungen verfolgte es keine. Wenn später also die Nationalsozialisten dem Reich seine "verfehlte Ostpolitik" vorwarfen, verkannten sie den eigentlichen Zweck dieser Formation.
"Heilig", "römisch" - "deutsch"?
Komplex wie seine Organisationsstruktur ist auch die Namensgeschichte des Reiches. "Römisch" war es von Beginn an, den heute irritierenden Beinamen "heilig" erhielt es im 13. Jahrhundert. Vor allem die Staufer forcierten die Vorstellung eines "sacrum imperium" - eines christlichen Universalreiches mit besonderer Sendung.

Im 15. Jahrhundert gewinnt schließlich der Namenszusatz "deutsche Nation" an Bedeutung. Das bedeutet jedoch nicht, dass das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" ein nationales "Deutsches Reich" im modernen Sinn war. "Darunter konnten durchaus auch Tschechen, Slawenvölker östlich der Elbe, Niederländer oder Französischsprachige in Lothringen verstanden werden", erklärte der Mittelalterhistoriker Walter Pohl gegenüber dem ORF.

Allerdings begann man durchaus schon im 15. Jahrhundert zu diskutieren, was denn diese "deutschen Nation" genau sein soll. Der Hegemonieanspruch einer Nation, der in diesem Zusatz zum Ausdruck kam, sollte auch das Ende des Reiches wesentlich mitbefördern.
Das Erbe des Reiches im 19. Jahrhundert
Das Reich war zwar ab 1806 Geschichte. Sein Erbe spielte jedoch weiterhin eine politische Rolle - vor allem auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und Österreichs. Dort wurde die Erinnerung an das Reich zu einem wichtigen Bezugspunkt für die deutsche Nationalbewegung.

Als 1871 das Deutsche Reich begründet wurde, schieden sich die Geister, ob dieses "Zweite Reich" jetzt eine Fortsetzung oder einen Neubeginn bedeutete. Einerseits grenzte man sich vom Alten Reich explizit ab: Das Deutsche Reich sollte dem Zeitgeist entsprechend ein moderner deutscher Nationalstaat sein - etwas, was das Heilige Römische Reich nie gewesen war. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat wollte man dezidiert anders gestalten.

Dennoch betrachteten viele das Reich von 1871 als eigentlichen Erben des Heiligen Römischen Reiches. Von diesem übernahm das Deutsche Reich nicht nur den alten "Erzfeind" Frankreich. Auch in der föderativen Verfassung des Reiches gab es Kontinuitäten.
Fatales Aufgreifen der Reichsidee durch die Nazis
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Reichsidee im nationalsozialistischen Traum vom "Dritten Reich" neue Konjunktur. Allerdings waren auch die Nationalsozialisten in ihrer Beurteilung des Heiligen Römischen Reiches gespalten.

Bemerkenswert ist, wie der Neuzeithistoriker Herbert Neuhaus hervorhebt, dass Hitler den Parteiinstitutionen 1938 die Verwendung des Begriffs "Drittes Reich" untersagte. "Er wollte nicht der Dritte in einer Abfolge von erstem und zweitem Reich sein, sondern er wollte das Reich schlechthin gegründet haben und auch verkörpern."

Dennoch benutzten die Nationalsozialisten mit Vorliebe alte Erinnerungsorte des Heiligen Römischen Reiches für ihre Inszenierungen: Nürnberg, die alte Stadt der Reichstage, wurde zur Stadt der Reichsparteitage umgedeutet.
Vorbild für ein föderales Europa oder feudales Relikt?
Gerade angesichts der nachhaltigen Diskreditierung der Reichsidee durch die Nationalsozialisten stellt sich die Frage, in wie weit das Heilige Römische Reich tatsächlich als Bezugspunkt für gegenwärtige Debatten über die Neugestaltung Europas herhalten kann.

Befürworter dieser Idee sind überzeugt, dass das Reich trotz vieler Probleme Modellcharakter für die Europäische Union haben könnte: Seine übernationale Struktur, sein föderaler Aufbau und seine flexible Grenzgestaltung würden Anknüpfpunkte für heutige Überlegungen bieten.

Gegner dieser Idee führen den Mangel an Demokratie und an sozialem und nationalem Ausgleich ins Treffen. Sie befürchten auch die Fortführung alter Feindbilder und Hegemonieansprüche.
Reich nach wie vor politische Brisanz
Bild: Carolin Paul
Zur Gedenk-Ausstellung bekommt der Magdeburger Reiter, weltberühmte Skulptur aus der Zeit der Staufer und Wahrzeichen der Stadt, ein kleines Ebenbild von Playmobil.
Alte Ressentiments sind jedenfalls nach wie vor wach: Als der deutsche Außenminister Joschka Fischer bei einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität für einen föderalen Aufbau der Europäischen Union plädierte, warf ihm der französische Innenminister Jean-Pierre Chevenement vor, dass "Deutschland noch immer vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation träume" - und sich "noch nicht von den Entgleisungen erholt hat, die der Nationalsozialismus in seiner Geschichte dargestellt hat".

Gerade dieser Zwischenfall zeigt, dass oberflächliche Debatten um die Vorbild- oder Feindbildwirkung dieses Reiches für Europa in der aktuellen Diskussion wenig weiterbringen.

Ein differenzierter Blick auf seine Geschichte kann aber durchaus dazu beitragen, die tiefere Dimension der aktuellen Probleme zu erhellen.

Martina Nußbaumer, Ö1/science.ORF.at, 4.8.06
->   Heiliges Römisches Reich - Wikipedia
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Ausstellung und Buch
Anlässlich des 200. Jahrestages seines Endes beschäftigen sich zahlreiche Jubiläumsausstellungen und Bücher mit der Geschichte des Reiches. Dazu zwei Hinweise:

Die umfangreichste Ausstellung zu diesem Thema wird ab 28. August 2006 zweigeteilt im Deutschen Historischen Museum in Berlin und im Kulturhistorischen Museum Magdeburg zu sehen sein ("Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten").

Einen kompakten Überblick über die Geschichte des Reiches, die Gründe seines Untergangs und dessen Konsequenzen für die Entwicklung Europas im 19. und 20. Jahrhundert bietet Brigitte Mazohl-Wallnigs Buch "Zeitenwende 1806. Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa" (Wien: Böhlau 2006).
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01.01.2010