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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Streit der Kulturen als Thema der Philosophie  
  Der Zusammenprall der Kulturen bestimmt mehr denn je das aktuelle politische Geschehen - und auch jenes der Philosophie: "Kulturen: Streit - Analyse - Dialog" lautete das Motto des diesjährigen Wittgenstein-Symposions, bei dem Philosophen über die Vielfalt geistiger Traditionen und den Dialog zwischen Andersdenkenden nachdachten.  
Die Schuld des Glaubens
Der in Ghana geborene, nunmehr an der University of South Florida, Tampa, lehrende Philosoph Kwasi Wiredu sieht den Fanatismus gleichsam als Ingredienz jeden Glaubens, der den Dialog mit Anderen verhindert:

"Ich bin davon überzeugt, dass der religiöse Glaube, der sich strikt an seine Vorgaben hält, Schuld daran ist, dass es zu keiner rationalen Konsensbildung kommen kann".
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Dialogforum
Angesichts der sich ausbreitenden Dialogverweigerung ist es wichtig, ein Forum zur Verfügung zu stellen, wo Philosophen aus unterschiedlichen Kulturen wieder miteinander sprechen können. Das 29. Internationale Wittgenstein-Symposion in Kirchberg am Wechsel, das Georg Gasser, Christian Kanzian und Edmund Runggaldier organisierten, räumte der interkulturellen Philosophie einen besondern Stellenwert ein.
->   Wittgenstein-Symposium 2006
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Interkulturelle Philosophie
Die Maxime der interkulturellen Philosophie lautet: "Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Entstehung nur Menschen einer einzigen Tradition beteiligt waren." Im Zentrum interkultureller Philosophie steht die Anerkennung pluraler Strömungen. Abgelehnt wird ein Denken, das sich im Besitz einer gültigen Wahrheit weiß, die als absolute Norm gesetzt wird.
Der Konsens als Basis der Demokratie
Eine ähnliche Überlegung stellt Kwasi Wiredu an: Er sieht ebenfalls den sich langsam entfaltenden Dialog als Voraussetzung für einen Konsens an, der einen stabilen Frieden garantiert. Er bezieht sich dabei auf die Traditionen der Ashanti, in denen die Konsensentscheidung bei Beratungen oft an der Tagesordnung war.

So spricht Wiredu davon, "dass die Alten unter den großen Bäumen saßen und miteinander sprachen, bis sie sich einig waren". Wiredu, der sich selbst als "professioneller Philosoph" versteht und sich der westlich-rationalen Philosophie verpflichtet fühlt, verklärt keineswegs das Palaver am Lagerfeuer als friedensstiftendes Element.

Wiredu schlägt vor, das Konsensprinzip als Grundelement der Demokratie einzuführen. Im Gegeneinander des Mehrparteiensystems sieht er die Tendenz, dass konkrete Problemlösungen durch Opposition um jeden Preis verhindert werden.

Wiredu ist nicht so naiv zu glauben, dass die Suche nach Konsens immer von Harmonie begleitet wird. "Aber wenn eine Parlamentssitzung dafür genützt würde, gemeinsame Lösungen zu finden, anstatt die Arbeit der anderen Parteien zu torpedieren, wäre schon viel gewonnen".
Philosophischer Dogmatismus
Wie in den Religionen dominiert auch im Mainstream der Philosophie der Glaube an die eigene Denkschule, die meist mit der europäisch- rationalen Philosophie gleichgesetzt wird. So schrieb etwa Edmund Husserl: "Wir verspüren es an unserem Europa, es liegt darin etwas Einzigartiges".

Die Existenz nicht europäischer Philosophien wird weitgehend ausgeklammert oder bestenfalls als "Mythologie" zur Kenntnis genommen. Der europäische Rationalismus hat die Tendenz, die Welt durch wissenschaftliche Methodik erklären zu wollen.
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Sendungshinweis
Mit interkultureller Philosophie und den Inhalten des diesjährigen Wittgenstein-Symposions beschäftigt sich auch die Ö1-Sendung "Dimensionen - Welt der Wissenschaft" am Donnerstag, den 17. 8.06 um 19.05 Uhr.
->   Mehr dazu
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Die Reaktion Wittgensteins
Gegen diesen Imperialismus der Philosophie - speziell gegen Hegel - richtete sich die Spätphilosophie Wittgensteins, die von einem anderen Geist geprägt ist "als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation, in der wir alle stehen". In seiner Spätphilosophie befasste sich Wittgenstein mit der Bedeutung von Sprachspielen.

Er ging dabei nicht von einem einheitlichen Gefüge der Sprache aus, sondern von anarchischen, nicht regulierbaren, einander überlappenden Sprachspielen, die er mit Landschaftsskizzen verglich. "Alle Erklärung muss fort", so notierte er: "und nur die Beschreibung soll an ihre Stelle treten. Oder noch einfacher: 'Denk nicht, sondern schau!'"

Gerade diese Weigerung Wittgensteins, sich am Spiel der essentialistischen Meisterdenker zu beteiligen, befähigt ihn, kulturelle Erscheinungen in ihrer Vielfalt in den Blick zu bekommen.
"Familienähnlichkeit" statt Streben nach Universalismus
Wittgenstein lehnte das Bestreben nach Allgemeinheit, das Streben "nach etwas Ausschau zu halten, das all den Dingen gemeinsam ist" eindeutig ab. "Die Tradition irrt, weil sie allzu forsch nach Allgemeinheit strebt".

Er ersetzte es durch das Konzept der "Familienähnlichkeit". Darunter verstand er "ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen". Das Konzept einer möglichen Eindeutigkeit wich einer ineinander verzahnten Pluralität.
Gegen die Verwissenschaftlichung des Mythischen
Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Wittgensteins verständlich, der er an dem schottischen Anthropologen und Religionswissenschafter Sir James Frazer übte. Frazer versuchte in seinem Hauptwerk "Der goldene Zweig" nachzuweisen, dass die Evolution des menschlichen Geistes sich von der Magie über die Religion bis zur Wissenschaft fortbewegte.

Die Kritik an der stromlinienförmigen Denkweise fasste Wittgenstein so zusammen: "Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer. Daher welche Unmöglichkeit ein anderes Leben zu begreifen als das englische seiner Zeit".
Richard Rortys Pragmatismus
Ähnlich wie Wittgenstein macht auch der amerikanische Philosoph Richard Rorty der akademischen Philosophie den Vorwurf, dass sie sich immer nur um Fragen gekümmert hat, die sich auf das Allgemeine, auf das Abstrakte und auf das Universelle beziehen.

Er versteht Philosophie als Pragmatismus, das heißt als Handlungsanleitung, um konkrete, menschliche Probleme zu lösen. Was zählt, ist die praktische Relevanz von Gedanken.
Gegen das Besserwissen und für die Liebe
Rorty war als Eröffnungsredner des Wittgenstein Symposions vorgesehen und musste wegen einer schweren Erkrankung absagen. In seinem gemeinsam mit dem italienischen Philosophen Gianni Vattimo verfassten Buch "Die Zukunft der Religion" empfiehlt Rorty, auf sämtliche autoritäre Wahrheitsansprüche zu verzichten.

Im Sinne einer interkulturellen Philosophie, der sich auch Wittgenstein verpflichtet fühlt, heißt es da: "Die Einsicht, dass man nicht um jeden Preis recht haben muss, schafft eine unvergleichliche Freiheit".

Und erstaunt liest man eine Passage, die man dem bekennenden Ironiker Rorty nicht zugetraut hätte: "Mein Gefühl für das Heilige, soweit ich eines habe, ist an die Hoffnung geknüpft, dass eines Tages meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der die Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist".

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 14.8.06
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Literaturhinweis
Ram Adhar Mall hat im Traugott Bautz Verlag die Studie "Ludwig Wittgensteins Philosophie interkulturell gelesen" publiziert.
"Die Zukunft der Religion" von Richard Rorty und Gianni Vattimo ist in der Übersetzung von Michael Adrian im Suhrkamp Verlag erschienen.
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01.01.2010