News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Mit Krimis zu fremden Kulturen  
  Der mehrfach ausgezeichnete US-amerikanische Krimiautor Tony Hillerman zeichnet in seiner Buchserie über zwei Navajo-Polizisten, die auf Verbrecherjagd gehen, ein umfassendes Bild der Navajo-Kultur - auch in Kontrast zur "modernen" Anglo-Kultur. Der Anglist Peter Freese skizziert, wie über die Buchhelden ein Zugang zu fremden Kulturen geschaffen wird. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2006 ein Seminar zu dem Thema.  
Tony Hillermans Navajo Detective Series
Von Peter Freese

Mit den bislang 18 Bänden seiner Navajo Detective Series hat Tony Hillerman die wohl bekanntesten "ethnischen" Detektive der neueren Kriminalliteratur geschaffen. Als profunder Kenner sowohl der archaischen Landschaft, als auch der Kulturen und Mythologien der Indianer des Südwestens eröffnet er seiner Leserschaft faszinierende Einblicke in fremde Welten.

Dass seine Krimis sogar in den Navajo-Schulen als Lehrbücher dienen, durch die den jungen und ihrer Kultur entfremdeten Navajos ihr verschüttetes Erbe vermittelt wird, bestätigt, wie genau der katholische Anglo die Welt der Navajos kennt.
...
Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Peter Freese von der Universität Paderborn leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2006 gemeinsam mit Theo D'Haen der Catholic University Leuven das Seminar "Who done it? Crime in Literature" (18.-23.8.2006). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
...
Polizist: Kulturanthropologe und Navajo
Joe Leaphorn, der ältere seiner beiden Navajo-Polizisten, hat nicht nur die reiche Tradition seiner weisen Ahnen geerbt, sondern auch an der Arizona State University einen B.A. und einen M.Sc. in Kulturanthropologie erworben.

Deshalb kann er die Welt des Reservats von innen und von außen, als Angehöriger und als Anthropologe betrachten - und eben diese Doppelperspektive ermöglicht es ihm, auch jene Fälle zu lösen, die den FBI-Agenten rätselhaft bleiben.
Ziel: hozho - harmonischer Kosmos
Leaphorn strebt nach dem, was die Navjos hozho nennen: nach einer systemischen Sicht der Welt als ein harmonischer Kosmos, in dem der Mensch sich einzufügen hat.

Er ist aufgewachsen mit der Vorstellung von Verbrechern als Skinwalkers, als Hexen, welche die Ordnung stören und so zur Gefahr für die Gemeinschaft werden.
Ohne Glaube an Zufall
Selbst angesichts scheinbar unbegreiflicher Taten besteht er darauf, dass die Taten einen "Sinn" haben, einen Grund - sie in ein Muster aus Ursache und Wirkung passen. Für den Polizisten gibt es keine Zufälle, weil "ihn alles in [seinem] Navajo-Blut, Knochen, Gehirn und Konditionierung gelehrt hat, gegenüber Zufällen skeptisch zu sein".

Insofern ist Leaphorn kein selbstherrlicher Vertreter menschlicher Verstandeskraft, sondern sieht sich als Teil der "miteinander verwobenen Harmonie" der Natur - kein Nachfolger Auguste Dupins oder Sherlock Holmes¿, sondern ein Sucher nach Ordnung als dem höchsten Gut der Navajo-Metaphysik.
Der "Navajo Way"
In einer Kultur, die nach hozho strebt und an Hexerei glaubt, nimmt die für Krimis konstitutive Spannung zwischen Gut und Böse zwangsläufig neue Konturen an.

Für Anhänger des "Navajo Way" können Gut und Böse weder in westlichen Denkkategorien, noch mit den Regeln eines kodifizierten Strafrechts definiert werden.

In einem der Romane gibt es eine Debatte über den Unterschied zwischen "bilagaani-Recht" und "Navajo-Recht", die in die Frage mündet: "Bemühst du dich um Bestrafung oder bemühst du dich um hozho?"
Zerstörerische Elemente beseitigen, ...
Die westliche Vorstellung von Bestrafung als gesellschaftlich applizierter Form der Sühne und Resozialisierung ist den Navajos fremd. Sie glauben, dass die gestörte Ordnung nur geheilt werden kann, indem man das Übel gegen dessen Verursacher wendet und sie vernichtet.

Die einzig angemessene Form solcher Selbstverteidigung ist der Tod. Wenn also jemand zum Skinwalker wird und einen Mitmenschen tötet, dann kann die Vergeltung nur darin bestehen, dasselbe mit ihm zu tun. Denn: Nur durch die Beseitigung der zerstörerischen Elemente wird die Harmonie restituiert.
... doch keine Selbstdarstellung
Folglich sterben die überführten Verbrecher in Hillermans Büchern eines gewaltsamen Todes. Es fehlt zudem die traditionelle Schlussszene des klassischen Krimis, in welcher der Detektiv die Schuldigen entlarvt und stolz erläutert, wie er den Fall löste.

Solche Selbstdarstellung wäre nicht nur ein Verstoß gegen die zu schützende Ordnung, sondern sie würde auch die aktive Wiederherstellung der gestörten Harmonie der Welt durch die eitle Demonstration der intellektuellen Stärke eines Einzelnen ersetzen.
Interkultureller Zugang als Erfolgskonzept
Der sich im Verlauf der Serie entwickelnde und zunehmend assimilierte Leaphorn fungiert auf Grund seiner bikulturellen Sozialisation als ein interkultureller Vermittler, der unlösbar scheinende Fälle nur deshalb aufklären kann, weil er seine Vertrautheit mit dem holistischen hozho-Konzept mit den Deduktionsmethoden des weißen Mannes kombiniert.

Von den FBI-Agenten als abergläubischer Unsinn abgetane Details dienen ihm als Hinweise, und sein Wissen um mythologische Bezüge und kulturspezifische Verhaltensweisen sowie seine Vertrautheit mit der Natur des Reservats lassen ihn Zusammenhänge erkennen, die anderen verschlossen bleiben.
Zwischen Anglo- und Navajo-Kultur
Stets leitet ihn die Absicht, etwas von der dem Navajo-hozho innewohnenden Ordnung "ins Chaos von Verbrechen und Gewalt zu bringen". Und bei all seinen Fällen wird seine Fähigkeit, sich der Strategien der Anglo-Kultur zu bedienen, ohne seine ethnische Identität zu verraten, durch den Kontrast zu seinen Gegenspielern verdeutlicht.

Diese sind dabei immer Personen, welche ihre Gruppenidentität verloren haben und - im wörtlichen oder übertragenen Sinn - zu Skinwalkers wurden, welche die Aufgabe ihres Platzes in einer tradierten Ordnung mit dem Verlust der Harmonie bezahlten.
Das Bild einer multikulturellen Welt
Insofern sind der "Navajo Way" und die archaische Landschaft des Reservats keineswegs nur exotische Zutaten zu einem formelhaften Genre, sondern Hillermans profunde Kenntnis der indigenen Kulturen des Südwestens. Sein Wissen um ihre gegenwärtigen Probleme erlauben ihm die Darstellung einer faszinierenden multikulturellen Welt.

Seine Krimis bieten ihren Lesern nicht nur spannende Handlungen, sondern führen sie auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise in eine fremde Kultur ein und zeigen ihnen, wie die "Einen" die "Anderen" verstehen können.

[16.8.06]
...
Über den Autor
Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Freese: Geboren am 10.3.1939 in Heide/Holstein, Studium der Anglistik, Amerikanistik und Germanistik in Kiel, Heidelberg und Reading, Promotion, Professuren in Kiel (1971-73), Münster (1973-79) und Paderborn (1979-2005), Gastprofessuren in Leeds, an der Illinois State University, an der Eötvös Lorant Universität Budapest, Fellow in Residence an den Claremont Colleges - Dekan, Senator, Prorektor, Mitglied der DFG-Graduiertenzentrums "Kulturanthropologie und Reiseliteratur", Fulbright-Vertrauensdozent, Mitglied der Auswahlausschüsse der Studienstiftung, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, DFG-Gutachter - 1999 Ehrung für Verdienste um die deutsch-amerikanische Verständigung, 2000 Honorary Doctorate der Lock Haven University of Pennsylvania, 2000 Bundesverdienstkreuz am Bande, 2004 Ehrendoktor der Universität Dortmund.
->   Peter Freese
...
->   Bücher von Tony Hillerman
Die Seminare zum Forum Alpbach 2006 in science.ORF.at:
->   "Aktivierende Arbeitsmarktpolitik" als Jobvermittler (11.8.06)
->   Die Rolle Europas im "Welt-Bürgerkrieg" (7.8.06)
->   Die Null und mathematische Unsicherheiten (1.8.06)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010