News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Elitenforscher: Selbst in Harvard gibt es Mittelmaß  
  In Österreich, Deutschland, auf EU-Ebene soll es bald "Elite-Universitäten" geben. Die Vorbilder dazu stammen zumeist aus den USA. Der deutsche Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann findet das problematisch: Durchgängig sei nicht einmal Harvard eine Elite-Uni, auch dort gebe es in vielen Bereichen Mittelmaß.  
Den derzeitigen Prozess an den Hochschulen, einzelne Einrichtungen zu "Elite-Unis" zu "ernennen", hält Hartmann, für "gefährlich".
An jeder Uni Bessere und Schlechtere
Die Tendenz, dass bestimmte Gesellschaftsgruppen Machtpositionen besetzen und monopolisieren, sieht Hartmann in vielen Bereichen, etwa in der Wirtschaft bei den Vorständen in den Unternehmen.

"Aktuell am problematischsten" sei aber, was sich an den Hochschulen abspiele: In Deutschland und Österreich "ernenne" man Institutionen einfach zur Elite. Bisher habe die Überzeugung vorgeherrscht, dass es an jeder Uni und in jedem Fachbereich Leute gebe, die besser seien als andere, und solche, die schlechter seien.
"Elite" als Prädikatssiegel
"Aber es gibt keine Hochschulen, die insgesamt per se Elite sind. Und das gilt auch für die USA. Selbst Harvard ist nicht durchgehende Elite, auch dort gibt es Mittelmaß."

Mittlerweile sei es aber allein schon ein Prädikatssiegel, wenn man in Harvard gewesen sei, so Hartmann. Kaum jemand überprüfe dagegen, was tatsächlich dort geleistet wurde.
...
Michael Hartmann referiert Ende der Woche bei der "GLOBArt Academy" in Pernegg (NÖ) zum Thema "Eliten(aus)bildung.
->   GLOBArt Academy
...
Unumkehrbare Dynamik
Die drohende "Institutionalisierung" von Elite-Einrichtungen hält Hartmann für einen unumkehrbaren Prozess. In den USA gebe es seit nunmehr rund 20 Jahren ein von einer Zeitschrift erstelltes Uni-Ranking, das seither eine Eigendynamik entwickelt habe: "Da achtet jede Uni drauf, ob sie jetzt auf Platz eins oder fünf liegt."

Wenn es - wie etwa in Deutschland geplant - zehn Exzellenz-Universitäten gebe, würden sie diesen Titel kaum noch verlieren. Dafür sorge schon allein die ungleiche finanzielle Ausstattung der Einrichtungen. Folge sei dann eine tiefe Spaltung zwischen den Hochschulen.
Ungleiche werden noch ungleicher
Hartmann erwartet sich vor allem in Deutschland ein weiteres Auseinanderdriften der Universitäten. Schon jetzt gebe es auf Grund der unterschiedlichen Budgets der einzelnen Bundesländer erhebliche Differenzen.

Wenn erst einmal die Auswahl der "exzellenten" Einrichtungen getroffen sei, würden sich diese verstärken, da die "Elite-Universitäten" einen Teil ihrer Mittel von den einzelnen Bundesländern bekämen, die dann den anderen Unis entzogen würden: "Was jetzt schon ungleich ist, wird später noch ungleicher werden."
Hochschulen verhalten sich passiv
Die derzeitigen Universitäten könnten sich zwar dieser Entwicklung entgegenstellen, meinte Michael Hartmann. Allerdings täten sie dies nicht.

"Hochschulen, die dabei nichts gewinnen können, verhalten sich passiv und verzichten auf eine öffentliche Diskussion, weil sie nicht in den Ruf kommen wollen, sie täten das nur, weil sie zu den Verlierern gehörten. Jene, die bei dem Prozess gewinnen, werden ihn natürlich zu befördern versuchen."
Österreichisches Konzept "noch unsinniger"
Die künftige Hochschulstruktur in Deutschland skizziert Hartmann folgendermaßen: "Wir werden 20 bis 25 Forschungsunis mit zehn Elite-Unis an der Spitze haben, an denen die Kinder aus Akademiker-Haushalten studieren, und dann die Massenunis, in denen in Kurzzeitstudiengängen die restlichen Studenten schnell durchgeschleust werden".

In Österreich werde die Entwicklung vermutlich ähnlich sein - allerdings hält der Soziologe das Elite-Uni-Konzept in Österreich für "noch unsinniger" als das deutsche.
->   Mehr dazu: Elite-Uni auf "grüner Wiese" chancenlos (30.5.06)
Soziale Selektivität wird stärker
Als Beispiel verweist Hartmann auf die USA: "Wenn es einmal Hierarchisierung im Hochschulsystem gibt, wird die soziale Selektivität immer weiter zunehmen. In den USA schickten die oberen zwei Prozent der Gesellschaft genau so viele Kinder an die Spitzen-Universitäten wie die unteren 80 Prozent."

In Österreich und Deutschland werde diese Tendenz vermutlich nicht so scharf ausfallen. Welche Konsequenzen die Elite-Initiativen genau hätten, werde man in zehn Jahren feststellen können.
Eine Frage des Geldes - parteiübergreifend
Die Hinwendung zum Elite-Gedanken sieht Hartmann durch konservative Regierungen nur begünstigt: Es gebe eine "informelle Übereinstimmung" zwischen den politischen Lagern, dass dieser unumgänglich sei, "weil ja niemand bereit ist, dringend nötige Finanzmittel in die Unis hineinzupumpen". Wenn man mit dem bestehenden Geld auskommen müsse, biete sich dieses Elite-Modell natürlich an.
Elitär statt egalitär
In diesem Zusammenhang ortet Hartmann auch eine Veränderung des intellektuellen Klimas: "Elite hat etwas Faszinierendes bekommen. Es sieht so aus, als ob es das Zauberwort für die Lösung aller Probleme ist." Dagegen sei die frühere Einstellung, wonach eine gute Ausbildung für möglichst breite Bevölkerungsschichten wichtig sei, in der Krise.

Dies zeige sich auch insgesamt im Bildungssystem: Während in Deutschland und Österreich mit der frühen Trennung der Kinder auf die verschiedenen Schullaufbahnen (Gymnasium, Hauptschule bzw. Realschule) das System auf schulischer Ebene immer schon sehr selektiv gewesen sei, habe man zumindest auf Hochschulebene ein relativ egalitäres Modell gehabt:

"Jetzt aber sattelt man auf ein selektives Schulsystem ein noch selektiveres hochschulisches drauf." Zusammen mit Studiengebühren und etwaigen Zugangsbeschränkungen begünstige dies natürlich Kinder aus gutbürgerlichen Familien.

[science.ORF.at/APA, 21.8.06]
->   Michael Hartmann, TU Darmstadt
...
Buch-Hinweis
Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Campus Verlag 2002
->   Das Buch im Campus Verlag
...
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Eliten-Forscher: Leistung lohnt sich nicht (7.6.06)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010