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'Versuchskaninchen' Mensch  
  Die Erforschung neuer Medikamente, Impfstoffe oder Therapieformen ist eine heikle Sache, vor allem wo zunehmend Experimente aus dem Tierversuch auf Menschen übertragen werden.  
Besonders bedenklich sind sie dann, wenn sie unter Zwang durchgeführt werden. Aber gerade dafür gibt es in der Medizin des 20. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele - ganz abgesehen von den Humanexperimenten in der Nazizeit oder anderen unter Kriegsbedingungen durchgeführten Menschenversuchen.
Zweifelhafte Humanexperimente
Mit zweifelhaften Humanexperimenten in der regulären Medizin des 20. Jahrhunderts hat sich in Lübeck eine internationale Tagung beschäftigt. Veranstalter war das Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität Lübeck.
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Labormitarbeiter als erstes Opfer
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war etwa im Labor Robert Kochs ein Labormitarbeiter mit der in Europa äußerst seltenen Schlafkrankheit infiziert worden. Wie 'besessen' stürzten sich die Ärzte auf das Opfer, um an ihm alle nur möglichen bis dahin nur im Tierexperiment getesteten Therapien auszuprobieren. Man behandelte ihn beispielsweise mit Arsenpräparaten, die zu schweren Sehstörungen führen oder mit der Farbstofftherapie, die Nierenversagen verursacht. Unter schwersten Nebenwirkungen leidend flüchtete der Kranke schließlich nach 18 qualvollen Monaten aus dem Krankenhaus.
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'Forschung' an afrikanischer Urbevölkerung
Die damals gängigen Forschungen an der Schlafkrankheit konzentrierten sich in der Regel allerdings auf die indigene Bevölkerung Ost- und West-Afrikas. Die infizierten Schwarzen wurden in einer Art Konzentrationslager zusammen getrieben. Wer sich widersetzte, endete häufig durch den Strick. Wolfgang Eckart und Christoph Gradman vom Institut für Geschichte der Medizin in Heidelberg haben sich mit diesem Kapitel der medizinischen Forschung beschäftigt.

In den tropischen Kolonien Deutschlands wurde neben der Schlafkrankheit aber auch die Malaria erforscht. Objekte der Forschung waren hier zumeist Europäer, aber auch chinesische Gastarbeiter. Schwarze sind bekanntlich häufiger gegen Malaria resistent.
Geld und Zwang
Geld ist neben Zwang in vielen Fällen ebenfalls häufig ein Mittel, den Forschern zu den gewünschten Versuchspersonen verhelfen. Die Medizinhistorikerin Susan Leder von der Yale University nennt als Beispiel dafür die Blutspendepraxis in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts.

Damals wurden bei der so genannten "direkten Transfusion" die Adern der Blutspender und Empfänger regelrecht 'ineinander geschoben'. Und dafür waren natürlich schwer Leute zu finden. Außer man bezahlte sie sehr gut.
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Etliche Kinder als Opfer
Für die Impfforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mussten zahlreiche Kinder herhalten. Einer der berühmtesten Skandale in diesem Zusammenhang ist das so genannte "Lübecker Kindersterben" im Jahr 1930. In Frankreich war ein Impfstoff gegen Tuberkulose entwickelt worden. Tuberkulose war damals in Europa weit verbreitet und etwa so bedrohlich wie heute Aids in den Entwicklungsländern. Als der Impfstoff im großen Stil in Lübeck in Deutschland eingeführt wurde, kam es zur Katastrophe. Von 256 geimpften Kindern starben 77 innerhalb kurzer Zeit. Damit hat sich der aus Strassburg stammende Arzt und Medizinhistoriker Christian Bonah beschäftigt.
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Geistig behinderte Kinder als Versuchskaninchen
Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte Jonas Salk in den USA einen Impfstoff gegen Kinderlähmung. Testpersonen waren geistig behinderte Kinder in einem Heim in der Nähe von Pittsburgh. Der Impfstoff gegen Masern wurde an gefangenen Frauen und deren Kindern getestet, jener gegen Hepatitis an geistig behinderten Kindern, die man zu Forschungszwecken absichtlich mit der Krankheit infizierte hatte.

Ein anderer Forscher in den USA , der die Entstehung von Krebs studieren wollte, setzte fremde Krebszellen in das Gewebe von alten, meist unter Demenz leidenden Menschen in Heimen für chronisch Kranke ein, ohne die Betroffenen um ihre Einwilligung zu fragen. Da fremde Zellen vom Körper abgestoßen werden, tue er ihnen nichts Böses, verteidigte er sich später. Er habe im Dienste der Menschheit gehandelt - so seine Überzeugung.
Aids: Große Pharmafirmen in dritter Welt aktiv
Eines der drängendsten derzeitigen Probleme ist die Aids -Forschung in den Entwicklungsländern. Weil gewisse Experimente und Studien in den westlichen Industrieländern verboten sind, wandern Pharmafirmen in großem Stil mit ihrer Forschung in die Entwicklungsländer ab. Dort dürfen sie in Placebo-Studien, im Unterschied zur westlichen Welt, bei Kontrollgruppen auf wirksame und damit teure Medikamente verzichten.
Regelungen für Humanexperimente
Die wichtigsten Ansätze, die Humanexperimente in der medizinischen Forschung regeln, sind
1. die so genannten Reichsrichtlinien aus dem Jahr 1930. Wichtigste Forderung darin ist die Freiwilligkeit der Testpersonen.
2. der so genannte Nürnberger Codex aus dem Jahr 1947 mit dem Zentralbegriff des "informed consent", also der Forderung nach der Einwilligung des Patienten nach vorausgegangener Aufklärung.
3. die Helsinki Konvention aus dem Jahr 1964 (bzw. die Überarbeitungen von Tokio und Hongkong), die fast sämtliche Tests an Gefangenen und Kindern aus Waisenhäusern verbietet, ausgenommen sie bedeuten einen eindeutigen gesundheitlichen Nutzen für die Betroffenen.

Ein Beitrag von Maria Mayer für die Ö1-Dimensionen
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Mehr dazu in den Ö1-Dimensionen am 6. Juni, 19.00 Uhr.
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01.01.2010