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Selektion: Individuum oder Gruppe?  
  Seit 40 Jahren streiten Evolutionstheoretiker darüber, ob die natürliche Selektion am Individuum oder an der Gruppe ansetzt. Zwei Biologen haben nun Datenbanken nach zweckdienlichen Hinweisen untersucht und kommen zu dem Schluss: Die Selektion greift am Individuum an.  
Das gilt zumindest für Seevögel, berichten F. Stephen Dobson von der Auburn University und Pierre Jouventin vom Forschungszentrum CNRS in Montpellier.
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"How slow breeding can be selected in seabirds: testing Lack's hypothesis" von F. Stephen Dobson und Pierre Jouventin erscheint demnächst in den "Proceedings of the Royal Societs B" (doi: 10.1098/rspb.2006.3724).
->   Abstract
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Langsames Liebesleben
Albatrosse sind, was ihre Fortpflanzung betrifft, ziemlich gemütliche Tiere. Sie werden erst mit zwölf Jahren geschlechtsreif, und wenn es einmal so weit ist, brauchen sie zwei Jahre, um nur ein Ei zu legen. Dafür leben sie auch ziemlich lang - nämlich bis zu 60 Jahre.

Dass Albatrosse - im Gegensatz zu vielen anderen Tierarten - einen gewissen Hang zur Geruhsamkeit aufweisen, steht daher wohl außer Frage. An der Erklärung dieses Phänomens scheiden sich jedoch die Geister.

Und zwar seit dem Jahr 1963, als der britische Zoologe Vero Wynne-Edwards das Buch Animal Dispersion in Relation to Social Behaviour veröffentlichte. Darin deutete Wynne-Edwards die verzögerte Fortpflanzung der Albatrosse als einen Akt der Selbstbescheidung, mit dem die Tiere zu hohe Populationsdichten vermeiden und so das ökologische Gleichgewicht erhalten.
->   Vero Wynne-Edwards - Wikipedia
Gebremstes Wachstum durch äußere Faktoren
Diese Interpretation löste heftige Debatten in der Fachwelt aus, die zum Teil bis heute andauern. Zum einen geht es dabei um die Frage, ob innere oder äußere Mechanismen die Zahl von Tieren und Pflanzen regulieren.

Nach der klassischen Darwin'schen Sicht der Dinge sind es vor allem die Unbillen der Natur - Nahrungsmangel, Feinde, Krankheiten -, die die Größe von Populationen konstant halten.

Gebe es diese einschränkenden Faktoren nicht, würde die Zahl der Individuen schnell steigen - und zwar exponentiell. Diese Argumentation wurde ursprünglich vom britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus entwickelt und im Wesentlichen von Darwin und seinen Nachfolgern übernommen.
->   Thomas Robert Malthus - Wikipedia
Freiwilliger Verzicht?
Wynne-Edwards sah das anders. Er wies darauf hin, dass viele Tierarten Regulationsmechanismen entwickelt hätten, mit deren Hilfe sie von selbst im ökologischen Gleichgewicht bleiben. Ein Beispiel dafür ist etwa die Territorialität: Albatrosse brüten meist auf Felseninseln in streng abgegrenzten Gebieten.

Damit sei automatisch die maximale Zahl der Paare pro Kolonie festgelegt, argumentierte Wynne-Edwards, womit die Gefahr der Überbevölkerung von vornherein vermieden werde.
Gruppen- vs. Individual-Selektion
Wichtiger als die Innen/Außen-Debatte war indes die Frage, auf welcher Ebene die Selektion wirkt. Für Wynne-Edwards war beispielsweise die Territorialität eine Anpassung, die sich zum Wohl der Gruppe - im Extremfall sogar zum Wohl der Art - gebildet hat. Diese Sichtweise wurde von Konrad Lorenz übernommen, der sich ebenfalls für das Konzept der "Arterhaltung" stark machte.

Für den streitbaren US-Biologen George C. Williams waren solche Beiträge schlichtweg Beispiele für schlampiges Denken. Er argumentierte in seinem Buch Adaptation and Natural Selection, dass der Begriff der Anpassung nur sinnvoll für Individuen zu verwenden sei - und führte dabei folgende Begründung ins Treffen: Erstens können sich nur Individuen eigenständig fortpflanzen, Gruppen hingegen nicht. Zweitens sind Anpassungen ein Produkt der Selektion.

Nachdem Selektion nichts anderes heiße als "unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg aufgrund vererbbarer Eigenschaften", so Williams, könnten Anpassungen nur zum Wohle des Individuums gebildet worden sein. Das schließt im Übrigen nicht aus, dass es auch Eigenschaften gibt, die sowohl dem Individuum als auch der Gruppe zugute kommen.
->   George C. Williams - Wikipedia
Zurück zu den Fakten
Welche der beiden Parteien auch immer Recht hat - die Debatte war heftig und nicht immer sachlich. Daher ist es nicht schlecht, dass F. Stephen Dobson und Pierre Jouventin nun einmal nachgesehen haben, wie die empirische Faktenlage zu diesem Thema aussieht. Zu diesem Zweck untersuchten sie 43 Arten aus der Familie der Sturmvögel, zu der etwa auch die Albatrosse gehören.

Zweck der Übung war die Überprüfung einer Hypothese, die der britische Ornithologe David Lack im Jahr 1968 geäußert hat. Er meinte, dass die geruhsame Fortpflanzung von Albatrossen und ähnlich lebender Seevögel kein Akt der Bescheidenheit ist, sondern viel einfacher begründet werden kann.
David Lacks Hypothese
Zum einen sei zu erwarten, dass große Vögel mehr Zeit in Brut und Aufzucht der Jungtiere investieren müssen als kleine Vögel. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Jungtiere von großen Vögeln ebenfalls größer sind.

Der zweite entscheidende Faktor ist die Lebensweise: Nach Lack sollten jene Tiere, die bei der Futtersuche besonders lange Wege zurücklegen, auch längere Brutperioden aufweisen.
Hartes Leben - wenig Kinder
Das trifft nach einer satistischen Analyse von Dobson und Jouventin auch zu. Je weiter ein Vogel für den täglichen Broterwerb fliegen muss, desto geringer ist dessen Investment in die Kinderstube. Das heißt im Klartext: Tiere, die unter kargen Bedingungen leben, legen weniger Eier, brüten länger und erzeugen im Schnitt weniger Jungtiere.

Die tendenzielle Lendenschwäche von Albatrossen und Co. dürfte daher aus Energieknappheit entstanden sein. Diese Erklärung setzt, wie bereits Lack betonte, am Individuum an. Bezugnahmen auf die Gruppe a la Wynne-Edwards seien jedenfalls nicht nötig, so Dobson und Jouventin.

[science.ORF.at, 11.10.06]
->   Website von Stephen Dobson
->   Website von Pierre Jouventin
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01.01.2010