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"EU reduziert Sozialpolitik auf Standortpolitik"  
  Soziale Sicherheit, Solidarität und Chancengleichheit - das sind die am häufigsten genannten Werte, wenn man danach fragt, auf welchen Grundlagen ein "Europäisches Sozialmodell" aufbauen soll. Die Art und Weise, wie Sozialpolitik in den aktuellen EU-Positionspapieren konzipiert wird, wird diesen Werten jedoch nur bedingt gerecht, kritisieren Politik- und Sozialwissenschaftler.  
"Sozialpolitik wird als produktiver Faktor betrachtet und ökonomischen Wachstums- und Wettbewerbsprinzipien untergeordnet. Dass sich diese beiden Bereiche zum Teil überlappen, ist klar. Aber es gibt Punkte, wo einander Sozial- und Wirtschaftspolitik widersprechen, und diese Widersprüche werden einfach ignoriert."

Mit dieser Kritik am "Europäischen Sozialmodell" eröffnete vergangene Woche die Politikwissenschaftlerin Ines Hofbauer die Diskussionsreihe "Baustelle 'soziales Europa'" am Institut für Wissenschaft und Kunst in Wien.
Die Lissabon-Strategie 2000
Eine übergreifende europäische Sozialpolitik gilt als entscheidende Säule des europäischen Einigungsprozesses. Stärker als alle bisherigen Strategiepapiere der EU bringt das die Lissabonner Agenda des Jahres 2000 zum Ausdruck: Wirtschaftliche, ökologische und soziale Erneuerung sollen Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt machen.
->   Lissabon Strategie - Europäische Kommission
Das "Europäische Sozialmodell"
Die Lissabon-Strategie sieht vor, die Beschäftigungsquote in Europa bis 2010 auf 70 Prozent anzuheben. (Voll)Beschäftigung ist daher auch eines der Hauptanliegen des "Europäischen Sozialmodells", wie es vor allem von der Europäischen Kommission propagiert wird.

Mittels "aktiver Arbeitsmarktpolitik", antidiskriminierenden Maßnahmen und der Modernisierung der Sozialsysteme sollen möglichst breite Teile der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Arbeitslosigkeit wird im "Europäischen Sozialmodell" als Hauptfaktor von Armut betrachtet ¿ und Armut als "Verlust von humanen Ressourcen".

Über derart allgemein gehaltene Formulierungen gehen die einschlägigen EU-Strategiepapiere bislang noch kaum hinaus, kritisiert Hofbauer. Im Gegensatz zu Budgetdefizitsündern müssen sozialpolitisch säumige EU-Mitgliedstaaten keine Sanktionen fürchten.
Kritik an Sozialpolitik als Standortpolitik
Hofbauers Kritik am "Europäischen Sozialmodell" in seiner aktuellen Form reicht jedoch noch weiter: Sozialpolitik werde dort auf ein Unterkapitel von Arbeitsmarktpolitik reduziert.

"Wir haben es hier nicht mit einem Verständnis von Sozialpolitik zu tun, wie wir es von der klassischen wohlfahrtsstaatlichen Tradition her kennen. Dort geht es um die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger, um Umverteilung sowie um die Korrektur von problematischen Marktmechanismen."

Im Gegenteil, so Hofbauer: Sozialpolitik bekomme immer stärker ökonomische Aufgaben zugeschrieben. Hauptziel sei die bestmögliche Integration der Menschen in den Arbeitsmarkt; wie dieser funktioniert, werde nicht mehr hinterfragt. Sozialpolitik mutiere zur Standortpolitik und werde zur Investition in die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen und Länder.
Umdeutung von Kampfbegriffen
"Beteiligung" statt "Umverteilung", laute die Devise. Dieser Wandel in der Sozialpolitik, so Ines Hofbauer, manifestiere sich auch in der "Verbetriebswirtschaftlichung" älterer sozialer Kampfbegriffe wie "Zivilgesellschaft" oder "Gender Mainstreaming".

"Der Begriff 'Gender Mainstreaming' kommt eigentlich aus der internationalen Frauenrechtsbewegung, die damit eine Vielzahl von Forderungen verknüpfte. Es ging um die Veränderung von Macht- und Herrschaftsstrukturen auf globaler und nationaler Ebene.

Heute ist Gender Mainstreaming kein Instrument mehr, das generell etwas an den strukturellen Diskriminierungen und Machtverhältnissen verändert, sondern ein Instrument, um Frauen individuell zu fördern und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist natürlich auch wichtig, aber wenn man generell etwas verändern will, braucht es einen breiteren Ansatz."
Widersprüche müssen aufgezeigt werden
Genau diesen breiteren Ansatz gelte es wieder zu forcieren, meint Ines Hofbauer, die bei FORBA - der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt in Wien - zu aktuellen Fragen von Arbeit, Demokratie und politischer Partizipation forscht.

Sie plädiert dafür, verstärkt auf die Widersprüche zwischen den Wettbewerbszielen und den sozialpolitischen Zielen der Lissabon-Strategie hinzuweisen. Dass diese Widersprüche auch in der Bevölkerung immer stärker wahrgenommen werden, hat nicht zuletzt die Ablehnung des Entwurfes einer europäischen Verfassung sowie der Protest gegen die Europäische Dienstleistungsrichtlinie gezeigt, mit der die EU zu einer Freihandelszone für Dienstleistungen werden soll.

Ein neu formuliertes "Europäisches Sozialmodell" könne kein alleiniges Projekt der Eliten sein, sondern müsse unter breiterer Beteiligung ausgearbeitet werden, so Hofbauer. Und es dürfe nicht nur auf Europa beschränkt bleiben: Konzentriere man sich nämlich alleine auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Systems, sei damit einmal mehr der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Ausbeutung der Dritten Welt Tür und Tor geöffnet.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 17.10.06
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Reihe "Baustelle 'soziales Europa'" am IWK
Die Reihe "Baustelle 'soziales Europa'" geht noch bis Jänner 2007 der Frage nach, wie soziale und zivilgesellschaftliche Interessen in Europa am besten vertreten werden können. Auch die Zeitschrift "Kurswechsel" wird das erste Heft 2007 dem Thema "Kampf um ein soziales Europa" widmen.
->   IWK - Baustelle "soziales Europa"
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->   Kurswechsel
->   Ines Hofbauer - FORBA
->   Sozialagenda - Europäische Kommission
->   Europäische Dienstleistungsrichtlinie - Wikipedia
Mehr zum Thema Europäische Sozialpolitik in science.ORF.at:
->   Nachhaltige Visionen für Europa (9.5.01)
 
 
 
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01.01.2010