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Negative Studien beeinflussen Ärzte deutlich  
  Ärzte lesen medizinische Fachzeitschriften sehr genau: Laut einer aktuellen Studie verändern negative Berichte über neue Medikamente ihre Therapien deutlich. Die Verwendung eines Herzmittels in den USA schrumpfte nach warnenden Studien innerhalb eines Jahres auf ein Drittel.  
Wie der Kardiologe Paul Hauptman von der Universität in St. Louis betont, ist das nicht prinzipiell verwunderlich, Tempo und Ausmaß der geänderten Praxis seien aber überraschend gewesen.
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Die Studie "Use of Nesiritide Before and After Publications Suggesting Drug-Related Risks in Patients With Acute Decompensated Heart Failure" ist im "Journal of the American Medical Association" (JAMA; Bd. 296, S. 1877, 18.10.06) erschienen.
->   Abstract
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Herzmittel mit Nebenwirkungen
Hauptman und Kollegen gingen einem konkreten Anlassfall nach: Sie untersuchten den Einsatz des Herzmedikaments "Nesiritid" (Natrecor) bevor und nachdem kritische Artikel dazu in den beiden Fachzeitschriften "Circulation" und "JAMA" erschienen sind.

Das Behandlungsmittel war 2001 in den USA auf den Markt gekommen und wurde in kurzer Zeit häufig Patienten verschrieben, die an akuter Herzinsuffizienz und Lungenhochdruck litten.

2005 sind dann Studien erschienen, die "Nesiritid" mit Nierenversagen und einem erhöhten Todesrisiko in Verbindung brachten.
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Eine der beiden Studien, "Short-term Risk of Death After Treatment With Nesiritide for Decompensated Heart Failure", ist am 20. April 2005 im JAMA (Bd. 293, S. 1900) erschienen.
->   Abstract in JAMA
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Von 16,6 Prozent auf 5,6 Prozent
Wie Hauptman und seine Kollegen nun herausgefunden haben, hat sich dies signifikant auf die Praxis der Ärzte ausgewirkt. Während vor Veröffentlichung der Studien bis zu 16,6 Prozent aller Patienten pro Monat mit "Nesiritid" behandelt wurden (März 2005), fiel die Rate bis zum Oktober des gleichen Jahres auf 5,6 Prozent. Besonders stark wurde der Einsatz bei älteren Menschen reduziert.

Bei der Studie wurden Daten aus 491 US-Krankenhäusern mit Akutversorgung von knapp 400.000 Patienten verwendet. Untersuchungszeiträume waren einerseits die acht Monate vor der Markteinführung von "Nesiritid" im Jahre 2001 und andererseits die Periode von Jänner 2004 bis Ende 2005 - in diese Zeit fielen auch die beiden negativen Artikel.
Wie die "Vogue" für die Modeindustrie
Überraschend sind diese Konsequenzen nicht - sehr wohl aber das Ausmaß und die Geschwindigkeit, meint Hauptmann in einer Aussendung der Universität St. Louis. Frühere Studien, die die Auswirkungen positiver Veröffentlichungen untersuchten, hätten nicht zu einer so schnellen Änderung des Verhaltens geführt.

Mark Schnitzler, Ko-Autor der Studie, hält den Einfluss der medizinischen Fachzeitschriften vergleichbar mit jenem, der die "Vogue" für die internationale Modeindustrie ausübt.

"Die meisten Ärzte lesen das JAMA oder das New England Journal of Medicine, auch wenn sie die einzelnen Artikel nur überfliegen. Sie glauben der Information und diese hat einen sehr realen Effekt auf das Verhältnis zu ihren Patienten", meint Schnitzler.
Junges Medikament verschwindet eher wieder
Das glaubt auch der Wiener Allgemeinmediziner Rolf Jens. Die Geschwindigkeit, mit der das - in Österreich übrigens nicht gebräuchliche - Herzmittel wieder zunehmend aus den Verschreibungslisten der US-Ärzte verschwand, führt er auf die prinzipiell kurze Einsatzdauer des Medikaments zurück.

"Wenn heute eine Studie erscheint, die beweist, dass Aspirin schlecht ist, darf ihre Glaubwürdigkeit ruhig angezweifelt werden - nachdem wir Jahrzehnte lang gute Erfahrungen gemacht haben. Bei einem relativ neuen Medikament sieht das natürlich anders aus", meinte der Obmann der Sektion Ärzte für Allgemeinmedizin der Wiener Ärztekammer gegenüber science.ORF.at.
Meinungsaustausch unter Kollegen
Für noch wichtiger als das Studium der einschlägigen Fachliteratur - für die Jens rund acht Stunden pro Woche veranschlagt -, hält er den Meinungsaustausch unter Kollegen. "Das funktioniert am einfachsten und schnellsten."

Spätestens dann, wenn sich eigene negative Erfahrungen mit jenen von Kollegen decken und Studien warnen, müsse die Therapie umgestellt werden, meint Jens.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 18.10.06
->   Paul Hauptman, Universität in St. Louis
->   Rolf Jens, Ärztekammer Wien
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Hormonersatz-Therapie: Negative Studien änderten ´Ärzte-Verhalten (5.1.04)
 
 
 
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01.01.2010