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Zum 60. Geburtstag von Elfriede Jelinek
Eine Gebrauchsanweisung
 
  Am Freitag feiert Elfriede Jelinek ihren 60. Geburtstag. Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin hat in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten politische Diskussionen ausgelöst wie kaum jemand anderer. Das liegt nicht nur an den Inhalten ihrer Theaterstücke und Romane, sondern auch an ihrer Form, meint eine deutsche Literaturwissenschaftlerin.  
Es ist die Offenheit ihrer Sprache, die die Rezeption ihrer Texte und entsprechende Auseinandersetzungen so wichtig macht, meint Evelyn Annuß, derzeit an der Ruhr-Universität in Bochum.

Diese Rezeption werde in ihren Werken - im Unterschied zu vielen anderen Autoren - bereits reflektiert.
Auseinandersetzung statt Antworten
Das Material, das in den Texten von Jelinek vorkommt, stammt oft aus aktuellen Diskussionen in den Medien. Im Gegensatz zu letzteren fällen Jelineks Texte aber keine Urteile, sondern lösen in einem ersten Moment oft Unverständnis der Leser und Leserinnen aus, meint die Theater- und Literaturwissenschaftlerin.

"Die Texte von Jelinek liefern keine Antworten, sondern provozieren dazu, dass man sich über bestimmte Themen streitet. Das scheint mir auch die politische Dimension ihrer Texte, die immer damit arbeiten, dass in der Rezeption noch einmal Fragen gestellt werden. Die also nicht unterstellen, dass sie allwissende Antworten für uns parat haben, sondern dass wir noch einmal miteinander darüber diskutieren müssen."
Offene Texte mit Vielzahl an Quellen
Zu diesem Diskussionsprozess trägt entscheidend die Form ihrer Sprache bei, die Offenheit ihrer Texte. In den Theaterfiguren von Jelinek sind immer eine Vielzahl an Quellen, auch verschiedener Personen miteinander verschränkt.

Sie können nur selten zurückgeführt werden auf eine sprechende Instanz: "Also auf eine Figur, wo man sich denkt 'Jetzt spricht die Autorin' oder 'Jetzt spricht die Figur aus dem Text', das funktioniert nicht bei diesen Texten, durch die Form des Zitierens, die den Text immer öffnet für alles Mögliche", führt Annuß aus.
"Burgtheater" mit Hörbiger-Wessely-Zitaten
Ein Beispiel dafür: Das Stück "Burgtheater", das in den 1980er Jahren eine rege öffentliche Diskussion über die Schauspielerfamilie Wessely-Hörbiger und ihren Umgang mit dem Nationalsozialismus auslöste.

Da kombinierte Jelinek Zitate aus der Autobiographie von Paul Hörbiger mit Filmzitaten, in denen Paula Wessely mitspielte - in verschiedenen Stadien vor, während und nach der Nazi-Herrschaft in Österreich.
Nicht Personen-Entlarvung, sondern Allegorien
Die Fiktion im Spielfilm und die "nachträgliche Fiktion von gelebtem Leben in der Autobiographie" hält Annuß für ununterscheidbar, und genau das mache Jelinek in dem Stück deutlich.

Zwar seien die Figuren des Stücks an reale Personen gekoppelt, aber nicht um sie als solche zu "entlarven". Entscheidend sei ihr allegorischer Charakter, d.h. ihr Verweis auf etwas anderes.

Dieses Andere sei die Frage nach der österreichischen Geschichte: Wessely-Hörbiger als Ikonen Österreichs, die für eine bestimmte Beschäftigung - oder besser: Nicht-Beschäftigung - mit Nationalsozialismus und Holocaust stehen.
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Zwei Symposien zum Geburtstag
Zum 60. Geburtstag von Elfriede Jelinek finden zwei wissenschaftliche Symposien statt, die eine veranstaltet vom Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum unter dem Titel "Ich will kein Theater", das andere im kunsthaus muerz in Mürzzuschlag unter dem Titel "Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek".
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Nachleben der Geschichte
Ein entscheidender Begriff für das Verständnis von Jelineks Werken ist für Annuß "Nachleben". Er stammt von Walter Benjamin und bedeutet soviel wie: Zitate, die man aus ihrem ursprünglichen Kontext herausreißt, bekommen in einem anderen Zusammenhang ein eigenes und anderes Leben - eben ein "Nachleben".

Dieses "Nachleben" finde man bei Jelineks Texten sowohl in der Form als auch im Inhalt. "Formal bedeutet das, dass Jelinek ihre Zitate immer entstellt verwendet. Inhaltlich geht sie der Frage nach, wie wir heute mit Geschichte umgehen."

Auch hier wieder das Beispiel des Burgtheater-Textes: Er fragt nicht danach, wie Geschichte wirklich war, sondern wie wir mit Geschichte umgehen, meint die Literaturwissenschaftlerin.
Nicht leicht für Schauspieler
Diese vielen Stimmen und Zitate, die die Theaterfiguren von Jelinek buchstäblich "sind", machen es Schauspielern nicht gerade leicht, ihre Rollen anzulegen. "Schauspieler, die Jelineks Sprechen aussprechen müssen, sind in ihrer Darstellungsfunktion erst einmal überflüssig", bringt dies Annuß auf den Punkt.

Und zwar weil "ihre körperliche Kontur, die Geschlossenheit ihrer Körper, nicht übereinstimmt mit einer Rede, die komplett dereguliert ist, aus den Fugen gerät und konturlos ist".
Körper verweisen auf Sterblichkeit
Macht aber nichts. Die Körper der Schauspieler bekommen dafür eine ganz andere Präsenz als in herkömmlichen Theaterstücken, wo sie Personen darstellen können.

Sie erinnern nicht mehr an reale Personen, sondern verweisen laut Annuß auf die "Kreatürlichkeit des Menschen, auf seine Sterblichkeit und Verwundbarkeit". Oder noch genauer: auf den sozialen Zusammenhang, in dem Menschen auf diese Sterblichkeit und Verwundbarkeit reduziert werden können.
Gute Inszenierungen "verdoppeln" Form
Was für Schauspieler erst einmal schwierig ist, ist für Regisseure erst recht eine Herausforderung. Jelineks Theaterstücke geben nämlich keine Inszenierungsform vor, meint Annuß. Gute Jelinek-Inszenierungen illustrieren nicht ihren Text, sondern bringen das Formprinzip noch einmal auf die Bühne, sie verdoppeln es sozusagen.

Als besonders gelungenes Beispiel sieht Annuß Einar Schleefs Inszenierung des "Sportstücks" 1998, in dem ein Chor etwa die Gewalt des Textes gut auf der Bühne umgesetzt habe.
Theatralik des Persönlichen scheitert
Was mit Sicherheit nicht funktioniert, ist nach Ansicht der Literaturwissenschaftlerin eine herkömmliche Darstellungsweise, die versucht, eine Theatralik des Persönlichen auf die Bühne zu stellen.

Die Verknüpfung von Positionen und Personen würde zwar in unserer Kultur vorherrschen - und zwar nicht nur auf der Theaterbühne, sondern auch in Politik und anderen Bereichen.

Jelineks Texte aber versuchen genau das zu überwinden - und "uns allen Hausübungen aufzugeben und nachzudenken, worüber hier überhaupt verhandelt wird".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 19.10.06
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Das Buch "Elfriede Jelinek - Theater des Nachlebens" von Evelyn Annuß ist 2005 im Wilhelm-Fink-Verlag erschienen.
->   Rezension des Buchs (Literaturhaus Wien)
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->   Institut für Theaterwissenschaft (Ruhr-Uni Bochum)
->   Homepage Elfriede Jelinek
->   Wilhelm-Fink-Verlag
->   ORF.at-Interview mit Elfriede Jelinek (20.10.06)
->   Zum 60. Geburtstag von Elfriede Jelinek (oe1.ORF.at)
 
 
 
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01.01.2010