News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Arbeitswelt braucht "neuen sozialen Kompromiss"  
  Immer mehr Menschen sind prekär beschäftigt: Bei Werkverträgen oder neuen Selbständigen wird auf die soziale Sicherheit oft vergessen. Der französische Soziologe Robert Castel mahnt in einem Interview deshalb einen "neuen sozialen Kompromiss" ein. Dieser müsse sowohl den Flexibilitätsanforderungen des gegenwärtigen Kapitalismus gerecht werden, als auch den sozialen Sicherheitsbedürfnissen der Menschen.  
In Deutschland ist vor kurzem eine Debatte über die "Unterschichten" ausgebrochen. Viele Politiker wollen das Wort gar nicht verwenden und streiten ab, dass es so etwas gibt. Wer sind diese "Unterschichten"?

Früher hat man in der Soziologie von gesellschaftlicher Exklusion gesprochen, von den "Ausgeschlossenen". Nun überwiegt die Haltung, dass man das genauer definieren soll - es sind verschiedene Kategorien von Menschen, deren Gemeinsamkeit es ist, nicht genug Geld für ein normales Sozialleben zu haben. Davon sind sowohl Menschen ohne Arbeit als auch mit Arbeit betroffen - die working poor.

Die neuen "Unterschichten" sind ein Phänomen der Globalisierung: Stabile Arbeitsverträge, die mit starkem sozialen Schutz verbunden sind, werden immer seltener.
Bild: Sabine Assmann, IWM
Robert Castel bei seinem Vortrag
am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien
Dafür hat die Soziologie dann auch ein neues Wort gefunden - das "Prekariat".

Es ist paradox: Auf der einen Seite wird die Arbeit in der gegenwärtigen Form des Kapitalismus immer mobiler, durch den globalen Wettbewerb ist die Flexibilität der arbeitenden Menschen verlangt. Auf der anderen Seite hat diese zu einem Verlust stabiler Arbeitsbeziehungen und damit verbundener sozialer Sicherheiten geführt.

Es gibt Menschen, die als nicht mehr "employable" gelten, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar sind, weil sie es nicht aufnehmen können mit den permanenten Veränderungen.

Als man in den 1980er Jahren erstmals von "Prekarität" gesprochen hat - von zeitlich begrenzten, flexiblen und sozial wenig gesicherten Beschäftigungsverhältnissen -, dachte man, dass es sich um ein vorübergehendes Phänomen handelt und dass prekär Beschäftigte später wieder eine fixe Anstellung finden würden. Nun aber hat sich die Situation institutionalisiert. Es ist eine Menschengruppe entstanden, die wir "Prekariat" nennen können.
Wie kann dieses Prekariat auch jene soziale Sicherheit bekommen, die ihm bisher fehlt?

Wir brauchen einen neuen sozialen Kompromiss unter den Anforderungen der neuen Arbeitsmobilität. Es gilt diese Mobilität mit sozialen Schutzmaßnahmen zu verbinden.

Zurzeit sind die sozialen Rechte mit dem Status unterschiedlicher Berufe verbunden, etwa über die Sozialversicherung. Es wäre sinnvoll, diese Rechte auf die Personen zu übertragen, die sie auch bei Arbeitslosigkeit, Berufswechsel oder nicht-sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen besitzen.
...
Vortrag am IWM in Wien
Robert Castel hat am 24. Oktober am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) einen Vortrag gehalten: "Y a-t-il un modele social francais? Elements pour la construction d'une Europe sociale" (im Rahmen einer gemeinsamen Reihe von IWM und Institut Francais de Vienne). Der Vortrag ist in der Audiothek des IWM als Download (mp3) verfügbar.
->   IWM-Audiothek
...
Was ist mit den Menschen, die nicht erwerbstätig sind, die aber auch gesellschaftlich wertvolle Arbeit verrichten - Stichwort: Hausfrauen?

Das ist eine schwierige Frage. In Frankreich gibt es Zuschüsse für Familien, wenn nur einer im Haushalt - klassischerweise der Mann - einen Job hat. Das ist zwiespältig, weil eine implizite Anerkennung der Geschlechter-Unterschiede, Männer arbeiten normal und Frauen bekommen zweitrangige Zuschüsse. Die Emanzipation der Frauen ist nur erfolgt, weil sie immer mehr mittels normaler Arbeitsverträge beschäftigt waren.
Eine weit verbreitete Einschätzung in der Gesellschaft lautet "Nur wer arbeitet, soll auch essen." Viele Politiker lehnen daher jede Art von Grundsicherung- oder einkommen ab.

Vielleicht sollte man ja den Begriff der Arbeit erweitern, er bedeutet heute nicht mehr nur eine Arbeit mit Arbeitsvertrag zu haben. Früher gab es Stabilität, lebenslange Arbeitsverhältnisse, den gleichen Beruf, heute gibt es viel mehr Jobwechsel, deswegen sollten die Rechte auch auf den Arbeiter übergehen. Wenn er viele Jahre gearbeitet hat, soll er auch in diesen Wechsel- oder Übergangsphasen seine Rechte behalten.
Das würde sich von der heute üblichen Arbeitslosenhilfe unterscheiden?

Ja, die Arbeitslosenhilfe richtet sich ja nach dem früheren Verdienst und der Betrag, den man erhält, reduziert sich schon nach wenigen Monaten. Zum Schluss bleibt die Sozialhilfe. Mein Modell würde stabilere Verhältnisse auf höherem Niveau bedeuten. Vorbild könnten die skandinavischen Länder sein, die jahrelange Arbeitslosenhilfe auf höherem Niveau anbieten - das bietet den Betroffen nicht nur ein würdevolleres Leben, sondern ermöglicht auch Weiterbildung, was für die Veränderungen am Arbeitsmarkt ganz entscheidend ist.
Gerade Menschen, die von derartigen Plänen profitieren würden, sind oft dagegen und wählen z.B. Parteien gegen ihre "objektiven Interessen". Warum?

Ich kenne die Situation in Österreich nicht sehr gut. Aber wir haben vielleicht eine ähnliche Situation in Frankreich mit der Wählerschaft des Front National von Jean-Marie Le Pen. Das sind oft Menschen, die sich völlig im Stich gelassen fühlen, die früher Arbeiter waren und jetzt keine Zukunft mehr sehen. Sie haben eine Logik des Ressentiments entwickelt, die zu Rassismus und Ausländerfeindlichkeit führt. Diese Ablehnung richtet sich gegen Menschen, die einem sozial betrachtet nahe stehen. Das kann man soziologisch verstehen, auch wenn man es politisch verurteilt.
Sind sie optimistisch, was die Lösungsfähigkeit dieser Fragen in unserer Gesellschaft betrifft?

Ich bin kein Prophet, die Zukunft ist immer unvorhersehbar. Die Arbeit eines Soziologen besteht darin, Diagnosen über die aktuelle Lage so genau wie möglich zu liefern. Entscheidend wird es meiner Meinung nach sein, zwei Dinge zu verbinden: die Tatsache, dass es eine Weltkonkurrenz gibt und dabei die nötige Solidarität und die soziale Sicherheit nicht zu vergessen. Als Soziologe kann ich Vorschläge machen, bestimmen tun andere.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 27.10.06
...
Robert Castel ist Directeur d'etudes an der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) und Leiter des dortigen Centre d'Etude des Mouvements Sociaux. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen "Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit". Zuletzt ist 2005 "Die Stärkung des Sozialen: Leben im neuen Wohlfahrtsstaat" erschienen.
->   Die Stärkung des Sozialen (Hamburger Edition)
...
->   Robert Castel (Centre d'Etude des Mouvements Sociaux)
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
->   Institut Francais de Vienne
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010