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Queer Studies lesen Sexualität "quer"  
  In Nordamerika sind sie an den Universitäten bereits länger anerkannt, im deutschen Sprachraum noch kaum: Queer Studies. Bei dieser noch jungen geisteswissenschaftlichen Disziplin werden Sexualität und Geschlechterverhältnisse analysiert und als soziale Konstruktionen begriffen. Erstmals findet in Österreich nun eine Tagung statt, die Queer Studies mit Literaturwissenschaft verbindet - dabei wird u.a. dem subversiven Potenzial des Nibelungenlieds nachgegangen, wie die Germanisten Anna Babka, Susanne Hochreiter und Wolfgang Lederhaas in einem Gastbeitrag schreiben.  
"Queer Reading in den Philologien"
Von Anna Babka, Susanne Hochreiter und Wolfgang Lederhaas

Queer Theory ist ein neues, spannendes und äußerst produktives Forschungsfeld, besonders in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Der englische Begriff "queer", der ursprünglich als abwertendes Wort verwendet wurde für schwule Männer, lesbische Frauen, transsexuelle Menschen und alle, die nicht recht in die Norm passen (wollen), gilt nun als positive (Selbst)Bezeichnung.

Verstanden als theoretisches Fundament und als politische Praxis bricht "Queer" herkömmliche Denktraditionen auf, setzt auf plurales Denken und auf Anerkennung von Vielfalt.
Grundlagen und Entwicklung der Theorie
Queer ist ein vielschichtiger Begriff, der viele und vieles anspricht: Er bezeichnet Lebensweisen ebenso wie Strategien politischen Handelns und steht wissenschaftlich für eine fächerübergreifende Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sexualität und Geschlechterverhältnisse.

Queer Studies haben sich aus der feministischen Theorie, den Gender Studies und der schwulen und lesbischen Forschung entwickelt. Queere Ansätze nützen und stützen sich auf Methoden und bisherige Erkenntnisse, hinterfragen diese jedoch kritisch und entwickeln sie weiter.
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Die Tagung "Queer Reading in den Philologien - Modelle und Anwendungen" findet von 2. -5. November 2006 an der Universität Wien statt (AULA, AAKH, Universitätscampus, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien).
->   Queer Reading in den Philologien
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Geschlechter sozial konstruiert
Eine zentrale Auffassung ist die Kritik an der Vorstellung, dass es "Mann" und "Frau" als biologische "Reinformen" gibt. Wie es schon die Ergebnisse der frühen feministischen wie schwulen und lesbischen Forschung nahe legen, sind die Geschlechter als Resultate sozialer "Konstruktion" zu verstehen.

In der Art, wie wir lernen, "Frau" oder "Mann" zu sein, steckt tatsächlich einiger Aufwand, den man als fortgesetzten Prozess verstehen könnte. Queer Studies gehen weiters davon aus, dass Menschen nicht von Natur aus bestimmte Formen sexuellen Begehrens entwickeln, sondern dass es eine größere Bandbreite gibt - und zwar weit mehr als Hetero- und Homosexualität.
Queere Identität: Individuell ohne Abwertung anderer
Es geht um die Anerkennung dieser Vielfalt auch in politischer Hinsicht und es stellt sich die Frage, wie ein gegenseitiges Verstehen, das Akzeptieren von Unterschieden zwischen Menschen überhaupt denkbar ist.

Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist Identität. Während Identität bisher immer bedeutet hat, zu einer Gruppe dazuzugehören, aus der andere Personen ausgeschlossen sind, geht der Versuch nun dahin, ein Individuum sein zu können, ohne damit andere Menschen abzuwerten oder auszugrenzen.

Dass sich diese Frage für Mehrheiten anders stellt als für Minderheiten, liegt auf der Hand. Es gilt Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu analysieren, um (politische) Wege zur Gleichberechtigung zu finden, die nicht doch wieder bestimmte Personen und Gruppen benachteiligt.
Impulse für Vernetzung der jungen Wissenschaft
International, vor allem in den USA und in Kanada, sind Queer Studies nicht nur anerkannt, sondern auch breiter an den Universitäten vertreten. Im deutschen Sprachraum ist die Situation deutlich anders.

Hier gibt es neben erfolgreichen Initiativen etwa an den Universitäten in Hamburg und Berlin sowie dem "Queer Institut", das an beiden Orten als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik fungiert, nur einzelne Forscherinnen und Forscher, die sich mit Queer Studies befassen.

Die nun stattfindende Tagung ist die erste ihrer Art in Österreich und international die erste mit dem gewählten Schwerpunkt auf Literaturwissenschaft. Ein Ziel ist es daher, einen Impuls für die wissenschaftliche Diskussion zu geben und zur Vernetzung der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beizutragen.
Queeres Lesen: Suche nach unsichtbaren Inhalten
Was hat das nun alles mit Literatur zu tun? In literarischen Texten kommen ebenfalls gesellschaftliche Normen sowie die Vorstellungen einer Epoche und einer Kultur bezüglich Geschlechtern und Sexualitäten zum Ausdruck.

"Queeres" Lesen untersucht Literatur im Hinblick auf diese eingeschriebenen Normen und sucht zugleich nach Spuren der ebenso enthaltenen, aber nicht geschriebenen Geschichten.

Es gilt, Inhalte sichtbar zu machen, die bisher in der Forschung übersehen oder absichtlich ausgelassen wurden. Das geschieht auch mit bekannten Texten bekannter Autorinnen und Autoren.
Beispiele: Ingeborg Bachmann und Thomas Mann
Ingeborg Bachmanns "Ein Schritt nach Gomorrha" ist dafür ein Beispiel. In dieser Erzählung begegnet die Pianistin Charlotte einer Studentin, die sich in sie verliebt hat - und obwohl es so offensichtlich um diese beiden Frauen und die Frage nach ihrer möglichen Liebe geht, hat sich jahrzehntelang niemand mit der lesbischen Thematik der Geschichte befasst.

Thomas Manns "Der Tod in Venedig" ist ein ähnliches Beispiel: Immer wieder wurde die Liebe des alten Schriftstellers Gustav Aschenbach zu dem jungen Burschen Tazio als Ausdruck seiner Verehrung des antiken Griechenland betrachtet. Dass es hier aber einfach eine große Sehnsucht und ein schwules erotisches Begehren gibt, wollten viele in einer Erzählung des so bedeutenden Autors nicht akzeptieren.
Que(e)rlesen von Nibelungenlied ...
Keinesfalls jedoch geht es bei der Methode des Queer Reading um ein biographistisches Outing, sondern um die que(e)re Semiotik des Textes und um die Analyse seines "dekonstruktiven Potenzials" (Andreas Kraß).

Wie kann eine queere Ästhetik aussehen, wie kann sie gelesen werden? Welche Formen des Dazwischen, wie sie ein queeres Verständnis von Identität nahe legt, existieren und werden lesbar und zerstreuen dadurch fixierte Bedeutungen?
... und Christoph Martin Wieland
Diesen Fragen sollen bei der Tagung in Wien beantwortet werden - u.a. anhand des Nibelungenlieds. Beatrice Michaelis wird die Konstruktionsspuren einer heteronormativen Geschlechter- und Sexualitätsordnung nachzeichnen und den Ungereimtheiten und Verwischungen nachgehen, die den Text immer wieder stören und kanonisierte Lesarten irritieren.

Zum Beispiel versucht Wolfgang Lederhaas eine verque(e)re Lektüre der "Novelle ohne Titel" von Christoph Martin Wieland, indem er eine bestimmte Identität des Begriffs queer "verstimmt", damit die Selbstverständlichkeit der "queer readings", den Leseakt, problematisiert und die Methoden und institutionellen Grenzen der Philologie zu befragt.

[31.10.06]
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Über die Autoren
Anna Babka, Studium der Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien, Lausanne, Paris und Berkeley (USA), lehrt Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Wien. Susanne Hochreiter, Studium der Germanistik, Philosphie/Psychologie und Pädagogik in Wien und Berlin, lehrt Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Wien. Wolfgang Lederhaas ist Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Assistent des Direktors der Diplomatischen Akademie Wien und freier Journalist.
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->   Anna Babka, Uni Wien
->   Susanne Hochreiter, Uni Wien
->   produktive differenzen
->   "Novelle ohne Titel" (Projekt Gutenberg)
 
 
 
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01.01.2010