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Hirnstudie: Wenn der heilige Geist zu Gläubigen spricht  
  Manche Menschen können ihre religiösen Gefühle derart intensivieren, dass sie die Kontrolle über ihre Sprache verlieren. "Zungenrede" nennt man diesen mysteriösen Zustand, bei dem die Betroffenen plötzlich unverständliche Laute hervorbringen, weil sie - so deren Interpretation - Eingebungen des heiligen Geistes empfangen. Hirnforscher haben nun Gläubige während der Zungenrede untersucht und festgestellt: Der subjektive Kontrollverlust spiegelt sich auch auf neurobiologischer Ebene wider.  
Die Ursache dieses Kontrollverlusts liegt allerdings noch im Dunkeln, berichtet ein Team um Andrew Newberg von der University of Pennsylvania.
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"The measurement of regional cerebral blood flow during glossolalia: A preliminary SPECT study" von Andrew B. Newberg et al. erschien auf der Website von "Psychiatry Research: Neuroimaging"(doi: 10.1016/j.pscychresns.2006.07.001).
->   Abstract
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Bereits im Neuen Testament erwähnt
Kann der heilige Geist mit Gläubigen in Kontakt treten? Oder sie gar als Vehikel gebrauchen, indem er durch sie mit anderen spricht? Im Urchristentum glaubte man daran.

Etwa die Mitglieder der 50 n. Chr. gegründeten Gemeinde von Korinth, über die der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte (2, 1-13) berichtet: "Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer ... und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen."

Die Zuhörer dieser spontanen Sprachverwirrung vermuteten zunächst, wie Lukas schreibt, dass die Erleuchteten wohl schon am Vormittag einige Gläschen intus hätten - "Sie sind voll von süßem Wein". Dann aber kam Petrus und sagte: "... diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: 'Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch'".
->   Apostelgeschichte des Lukas, Kapitel 2
Als psychologisches Phänomen bekannt
In gewisser Hinsicht beschrieb Lukas mit dem "Ausgießen des Geistes" etwas, das es wirklich gibt. Zumindest als psychologisches Phänomen: Zungenrede oder Glossolalie nennt man einen rätselhaften Geisteszustand, bei dem Menschen in fremdartigen, unverständlichen Silben sprechen, so, als ob jemand anderer Kontrolle über ihren Körper gewonnen hätte.

In Seitenströmungen des Christentums - etwa der Charismatischen Bewegung und der freikirchlichen Pfingstgemeinde - wird die Zungenrede nach wie vor als Kontaktnahme mit dem heiligen Geist interpretiert. Vorausgesetzt, man hat die Gabe dazu. Denn erlernbar scheint die Zungenrede nicht zu sein.
Gehemmter Frontallappen
Selbst als Agnostiker würde man in diesem Zusammenhang zumindest eines gerne wissen: Was geht im Kopf einer Person vor, wenn sie mit dem heiligen Geist in Kontakt tritt - oder zumindest glaubt, das zu tun?

Dieser Frage hat sich nun ein Team um den Psychologen Andrew Newberg angenommen. Er und seine Mitarbeiter untersuchten fünf weibliche Mitglieder der US-amerikanischen Pfingstgemeinde, die die Zungenrede in den letzten fünf Jahren fast täglich praktizierten. Per Computertomografie durchgeführte Aufnahmen zeigten, dass die Glossolalie ganz andere Aktivitätsmuster im Gehirn hervorrief als etwa das Singen religiöser Lieder.

Bei ersterer war offenbar jenes Gehirnzentrum gehemmt, das normalerweise mit der Kontrolle der Ich-Instanz zusammenhängt: "Unsere Versuche zeigten, dass während der Zungenrede der Frontallappen weniger aktiv ist ", erklärt Newberg: "Das ist faszinierend, weil die Probandinnen daran glauben, dass sich der Geist Gottes durch sie bewegt und ihre Sprache kontrolliert."
Gegensatz zur Meditation
Im Gegensatz dazu registrierten die Forscher in der so genannten parietalen Region eine Zunahme der Aktivität - jener Teil des Gehirns, "der Sinnesinformationen aufnimmt und das Ich in Beziehung zum Rest der Welt setzt", so Newberg. Das ergebe ein durchaus kohärentes Bild, betont der US-Forscher.

Denn die Zungenrede zeichne sich einerseits durch einen Kontrollverlust, andererseits durch "eine intensive Erfahrung der Verbindung zu Gott aus." Interessanterweise passiert im Zustand der Meditation genau das Umgekehrte, wie man aus früheren Studien weiß.

Hier ist der Frontallappen überaus aktiv, die parietale Region hingegen gehemmt. Anders ausgedrückt: Meditierende Personen weisen zwar einen sehr kontrollierten Fokus auf, lockern dafür die Beziehungen zwischen dem Ich und der Umwelt.
Ursache des Kontrollverlusts unbekannt
Wer oder was für den Kontrollverlust während der Zungenrede verantwortlich ist, konnten Newberg und Mitarbeiter indes nicht feststellen.

"Unsere Ergebnisse könnten auch dahingehend interpretiert werden, dass der Willen der Probandinnen von jemandem anderen übernommen wurde. Wir vermuten aus wissenschaftlicher Sicht freilich, dass die Kontrolle von einem anderen Hirnzentrum übernommen wurde. Aber wir wissen nicht, welches." Raum für metaphysische Deutungen der Studie scheint also noch vorhanden zu sein.

Robert Czepel, science.ORF.at, 6.11.06
->   Zungenrede - Wikipedia
->   Andrew Newberg
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01.01.2010