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"Genie und Arbeit" im Wandel der Zeiten  
  Ein Genie ist jemand, der nicht nötig hat zu arbeiten, der zur Arbeit gar nicht zu brauchen ist - und dennoch etwas hinkriegt, was ihm keiner nachmachen kann. Wie ein Irrlicht begleitet der Traum vom mühelosen Gelingen außerordentlicher Leistungen, der in dieser Vorstellung vom Genie zum Ausdruck kommt, die moderne arbeitsteilige Gesellschaft. Der Philosoph Eberhard Ortland, derzeit als Research Fellow am IFK in Wien, untersucht die Umbrüche im Verhältnis zwischen Genie und Arbeit in einem Gastbeitrag.  
Zur Faszination des Außerordentlichen in der modernen Arbeitsgesellschaft

Von Eberhard Ortland

Bis ins 18. Jahrhundert ist von Genie vor allem im Hinblick auf die Eignung eines Menschen für bestimmte Aufgaben - nicht nur in den 'schönen' Künsten - die Rede.

Man nennt Genie "die naturgegebene Fähigkeit eines Menschen, bestimmte Dinge gut und mit Leichtigkeit zu schaffen, die andere nur sehr schlecht machen könnten, selbst wenn sie sich viel Mühe gäben" (Jean Baptiste DuBos, 1719).
Individualgenies der Frühneuzeit
Grundsätzlich bei jedem ist zu fragen, was für ein Genie er hat, zu welcher Arbeit er begabt sein mag. Die Menschen unterscheiden sich in ihrem Genie, das "enger" oder "weiter", "stärker" oder "schwächer", "lebhaft" oder "träge" sein kann.

Die Verschiedenheit der Individuen passt harmonisch zu den Erfordernissen der Arbeitsteilung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft.

Zumindest darf man darauf hoffen, dass für jede Arbeit sich jemand fände, der dazu geeignet wäre, und dass für jeden eine seiner Fähigkeit entsprechende Beschäftigung gefunden werden könnte, - wenn auch im wirklichen Leben mancher am falschen Platz sein mag.
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Vortrag am IFK in Wien
Am 6. November spricht Eberhard Ortland am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien über "Genie und Arbeit".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
Zeit: 6. November 2006, 18.00 Uhr c. t.
->   IFK
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Entfremdung durch Industrialisierung
Im späteren 18. Jahrhundert jedoch ändert sich das Verhältnis von Genie und Arbeit grundlegend. In den komplexer werdenden Produktionsprozessen der einsetzenden Industrialisierung müssen die in immer engere Einzelschritte aufgeteilten Arbeiten geleistet werden, ohne dass jedes Mal erst gefragt werden könnte, ob das Genie des Arbeitenden auch zu den Anforderungen seines Jobs passt.

Für die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung wird die Erfahrung der Arbeit zu einer Erfahrung der Entfremdung: Sie können nicht tun, was ihnen gemäß wäre, sondern müssen
tun, was die Gesamtorganisation des arbeitsteiligen Prozesses ihnen gerade abverlangt.
Klassischer und romantischer Geniebegriff
Die Arbeit wird ohne Begeisterung gemacht. Zugleich erscheint das Genie nun in maximalem Kontrast zur Sphäre der Arbeiten. Es soll und will mit den Niederungen der Arbeit und der Arbeitsteilung nichts mehr zu tun haben.

Dieser Umbruch in der Beziehung des Genies zur Sphäre der Arbeiten ist es vor allem, wodurch der moderne, 'romantische' Geniebegriff sich abhebt gegenüber dem älteren, 'klassischen'.
Freiheit von allen Regeln
In den nun in großer Zahl entstehenden Traktaten über das Genie wird der Bezug zu bestimmten Aufgaben im zunehmend ausdifferenzierten System der Arbeitsteilung nicht mehr hergestellt.

Stattdessen wird das Moment der absoluten Freiheit gegenüber allen Regeln und vorbestimmten Aufgaben in den Vordergrund gehoben oder - in Reaktion darauf - gefragt, welcher Einhegung diese Freiheit bedürfe, um nicht in verhängnisvolle Anomie auszuarten.
Künste des Genies
Die Einengung der Zuständigkeit des Genies auf die Sphäre der schönen Künste wird erst vor diesem Hintergrund verständlich. Die Ausdifferenzierung einer Sphäre der 'autonomen' Kunst wird selbst erst in dem Moment vollzogen, da das Genie in den nützlichen Künsten nicht mehr gebraucht werden kann.

In den schönen Künsten kann das Genie etwas schaffen, das unnachahmlich und "in sich selbst vollendet" ist. In den nützlichen Künsten hingegen kommt es gerade darauf an, regelmäßig und zuverlässig Leistungen zu erbringen, die um vorgegebener Zwecke willen benötigt werden.
Souveränität in Distanz zur Arbeitsdisziplin
Im Geniekult kommt eine Sehnsucht zum Ausdruck, deren Möglichkeitsbedingungen erst von der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft hergestellt werden, sowohl positiv im Hinblick auf die Verheißungen ungebundener Selbstverwirklichung, als auch negativ im Leiden an der entfremdeten Arbeit.

Eine Zeitlang konnte der Geniebegriff als Strategie im Interesse derjenigen fungieren, die eine - wie immer prekäre - Position der Souveränität in Distanz gegenüber der rigider werdenden Arbeitsdisziplin zu gewinnen suchten. Im 19. Jahrhundert traten zunehmend die pathologischen Züge dieser forcierten Dysfunktionalität hervor.
Aktualität des Konflikts
Wenn auch der Geniebegriff zur Verständigung über menschliche Individualität oder genuin kreative Produktion heute nichts beitragen kann, ist doch der Konflikt um die Verteilung der Arbeiten, auf den er reagiert und in dem er bestimmte Chancen eröffnen sollte, alles andere als obsolet. Man muss ihn nur zu lesen lernen.

[6.11.06]
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Über den Autor
Eberhard Ortland ist Lehrbeauftragter an der FU Berlin. Im Wintersemester 2006/07 arbeitet er als IFK Research Fellow an einem Buch über Genie und Arbeit.
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->   Weitere Beitrage des IFK in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010