News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Europa neu - ein Europa der gemeinsamen Werte?  
  Europa befindet sich in einer neuen Phase der Integration. Der Europadiskurs ist dabei nicht mehr allein durch ökonomische und politische Momente geprägt, sondern vor allem durch eine Definition der Europäischen Union als Wertegemeinschaft. Diese "Wertefixierung" verstärkte sich durch die Debatten um künftige Erweiterungsschritte und die europäische Verfassung. Hat diese Wertediskussion Vorläufer? Es hat den Anschein, dass damit die seit dem 19. Jahrhundert dominierenden nationalen Konzepte und Denkmuster fortgeschrieben werden, sagt Geschichtswissenschaftler Johannes Feichtinger in einem Gastbeitrag anlässlich einer Konferenz in Wien.  
Europa, quo vadis?
Von Johannes Feichtinger

In den öffentlichen Debatten um eine spezifische politische Kultur Europas tauchen wieder längst überwunden geglaubte Vorstellungen auf: So werden in den Bemühungen, Europa als einen kulturell homogenen Raum zu konstruieren, wieder nationale Traditionen aufgegriffen. Zu diesem Zweck wird insbesondere auch auf verbindliche europäische Wertvorstellungen rekurriert.

Durch diesen Rekurs auf die kulturellen Werte Europas - Grund- und Menschenrechte, Individualautonomie und Zivilgesellschaft, Demokratie, Gleichberechtigung, Rationalität, Säkularisierung, etc. - werden allerdings universale Prozesse der Moderne zu genuin europäischen Errungenschaften stilisiert.
->   Mehr zur Tagung zur Frage "Was ist europäisch?" (7.11.06)
Was Europa zusammenhält: ...
Dass der Prozess der Modernisierung als europäisches Spezifikum reklamiert wird, und - damit verbunden -, dass dieser Wertediskurs zu Abgrenzung bzw. Abwertung eines nichteuropäischen "Anderen" verwendet wird, ist heute Gegenstand der Kritik von Seiten der Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften.

Läuft der dominante Europadiskurs, der das angeblich authentisch Europäische aufwertet, nicht Gefahr, alles das, was nicht Europa ist, abzuwerten? Sind diese angeblich natürlichen Werte nicht anfällig für Missbrauch, um über das so genannte "Andere" Herrschaft und Macht auszuüben oder zumindest Machtasymmetrien zu verstärken? Ähnlichkeiten zum nationalen Prinzip, das sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, sind unübersehbar.
... Geteilte Erfahrungen oder Wertekonsens?
In dieser "EUropa-Werte-Debatte" wird zuweilen mehrerlei übersehen: Es lässt sich Europa aufgrund seiner inneren Differenzen und Vielfalt kaum als Einheit begreifen, umfasst es doch eine Vielzahl verschiedener, sich überlappender sozialer, kultureller, regionaler und nationaler Identitäten, Gedächtnisse, Traditionen in unterschiedlichen Schattierungen.

Dennoch gab und gibt es eine Tradition der Vorstellungen von Europa, die über gegenwärtige Wertedebatten bzw. territoriale Abgrenzungen hinausreichen: So in den Überlegungen Herodots über die Unsicherheit, den Begriff Europa territorial und definitorisch festzulegen - oder in der Bezeichnung Europas als "Palimpsest" durch den französischen Schriftsteller Victor Hugo.

Für den Schweizer Autor und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg kann das Identitätsverständnis von Europas nicht auf exklusiven Wertvorstellungen, sondern nur auf einem geteilten Erfahrungs- und Erinnerungspotenzial beruhen; dabei sind vor allem die "Abstiegserfahrungen" (Jürgen Habermas) ins Auge zu fassen (Shoa).
...
Der Schriftsteller und Wissenschaftler Adolf Muschg eröffnet mit seiner Lesung zum Thema "Was ist europäisch?" am Donnerstagabend um 17:00 Uhr die Konferenz im Theatersaal der ÖAW, Sonnenfelsgasse 19, 1. Stock, A-1010 Wien (Keine Anmeldung erforderlich, Eintritt frei).
...
Hat Europa ein Monopol auf die Moderne?
Viele Errungenschaften der Moderne, die als spezifisch europäisch vorgestellt werden, wie die Unverletzbarkeit von Grund- und Menschenrechten, sind heute ein unveräußerlicher Gegenstand von globaler Bedeutung.

Was die Grundrechte betrifft, wird aber übersehen, dass sie zunächst nicht als europäische, sondern als bürgerliche Rechtsinstitute konzipiert wurden. Sie wurden den autokratischen Herrschern vielfach durch revolutionäre Bewegungen abgerungen. Meinungs-, Versammlungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit usw. waren Instrumente der Delegitimierung der "anciens regimes" bzw. der Legitimierung von neuen Herrschaftsformen. Die Grundrechte waren und können sonach ein Manifest der radikalen Herrschaftskritik sein.

Mit der Frage der Universalisierbarkeit von in einem spezifisch historisch-kulturellen Kontext entstandenen Rechtsnormen und Werten ist zudem eine zentrale Debatte des Globalisierungsprozesses angesprochen. "Westliche" Wertvorstellungen sind heute von globaler Bedeutung. Lässt sich ihr Anspruch auf universelle Gültigkeit mit dem Argument kultureller Differenz bestreiten?
Der Wert des Werts
In der Werkstatt EUropa tauchen heute wieder Vorstellungen auf, welche die jüngere Nationalismusforschung als Charakteristika westlicher Nationsbildung beschreibt. Auffällig ist die Wiederkehr von Authentisierungs- und Abwertungsdiskursen, die der als überwunden geglaubten Logik der Inklusion (Angleichungszwang) und Exklusion (Ausgrenzung) gehorchen.

Wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Abstammung, also "Volkstum", "Ethnie", "Rasse" und weiters die Sprache als Argumente angeführt, um zu klären, was "deutsch" bzw. nicht "deutsch" sei, so droht im europäischen Integrationsprozess der Wert des Werts diese Abgrenzungsfunktion zu übernehmen.

So scheint der Wertediskurs zunehmend geführt zu werden, um zwischen Europa und seinem nicht-europäischen "Anderen" eine Grenze zu markieren. Dabei läuft er Gefahr, Unterschiede als natürlich aufzufassen und mit Werten zu besetzen. Im Zuge dieser Selbstaufwertung wird das, was scheinbar nicht voll dazu gehört, abgewertet.
Nation "EUropa"?
Verfährt EUropa strukturanalog, so definiert sich eine neue europäische Identität, trotz des trans- oder übernationalen Anspruchs, zwangsläufig über Aus- und Abgrenzung:

Was seine Minderheiten betrifft, läuft das neue nicht-europäische "Andere" im Inneren Gefahr, durch die Art, wie der Wertediskurs zur Zeit geführt wird, als Bedrohung erkannt und einem Assimilationszwang unterworfen zu werden.

Was sein Äußeres betrifft, bestünde für ein "nationalstaatlich" gebautes Europa, das seine Werte verabsolutiert, das Risiko, "Außereuropa" bestenfalls zu ignorieren, im schlechtesten Fall sich vor ihm abzuschotten. Das Argument der angeblichen Unvereinbarkeit europäischer Werte mit der überwiegend moslemischen Türkei ist das sichtbarste Beispiel hierfür.
Der Islam und Europa
Dass der Islam seit jeher aber ein wesentlicher Teil Europas war und ist, wird geflissentlich übersehen. Spielte sich die Osmanische Geschichte nicht jahrhundertelang in Europa ab - mit Auswirkungen auf Lebensstil, Kultur und Alltag? Und ist der Islam nicht seit 1874 ("Anerkennungsgesetz") bzw. 1912 ("Islamgesetz") eine gesetzlich anerkannte Religion in Österreich?

Den Gegensatz "Abendland/Morgenland" als Anachronismus zu entziffern, reicht nicht mehr aus. Zu diskutieren wird sein, inwieweit sich die neue Salonfähigkeit von ältesten Stereotypen (Orientalismus, Antisemitismus) einer unbewältigten Vergangenheit verdankt oder aber des Sich-Verschließens vor den tatsächlichen Herausforderungen einer zunehmend miteinander vernetzten Welt.
Neue Wege
Es gilt, über neue Formen der Identitätsbildung jenseits scharfer Grenzziehungen nachzudenken. Denn: Sollte sich Europa nicht vom Konzept der Auf- und Abwertung verabschieden, und sich im Gegenzug seiner kulturellen Identität aus einer gemeinsamen Deutung seiner Erfahrungen im Umgang mit widersprüchlicher Vielfalt versichern?

[8.11.06]
...
Über den Autor
Johannes Feichtinger studierte Geschichte, Germanistik und Medienkunde an der Universität Graz, ist Lehrbeauftragter an der Uni Graz und seit 2004 Mitarbeiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW (KKT).
->   Lebenslauf auf der KKT-Website
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010