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175 Jahre nach Hegel: Das Denkmal zerbröckelt  
  Der Tübinger Philosoph Ernst Bloch sagte einmal: "Es gibt nur Hegel und Karl May; alles übrige ist eine unreinliche Mischung." Soll heißen: An Hegel führt in der Philosophie kein Weg vorbei.  
In der Tat: Kaum einer hat das philosophische Denken der vergangenen zwei Jahrhunderte derart geprägt wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1770 in Stuttgart geboren wurde und am 14. November 1831 in Berlin starb. Doch das Denkmal bröckelt. 175 Jahre nach seinem Tod sind die Hegelianer fast ausgestorben.
Auch Hegel-Marxisten verschwunden
"Die Marxisten waren die letzten Hegelgetreuen, aber sie sind verschwunden oder verstummt", sagt der Hamburger Hegel-Experte Herbert Schnädelbach.

"Zwar werden unablässig Vorlesungen und Seminare über Hegel abgehalten, doch wer getraut sich schon, seine Philosophie im Ernst zu vertreten?"

Der steile Anspruch des "absoluten Idealismus", die ebenso beeindruckende wie Furcht erregende Geschlossenheit des Hegelschen Systemdenkens, sein unerschütterliches Vertrauen in die Vernünftigkeit des Wirklichen: All dies versperrt die Rückkehr zu Hegel.
Und doch auch moderne Anknüpfungen
Und doch: Hegels Werk strotzt vor so viel intellektueller Fülle, dass zumindest Teile davon immer wieder neu entdeckt, angeeignet und weitergedacht werden. Selbst angelsächsische und amerikanische Forscher, die dem kontinental-metaphysischen Idealismus fern stehen, stoßen auf überraschende Analogien.

John McDowell und Robert Brandom zum Beispiel schlagen an der Universität Pittsburgh eine viel beachtete Brücke von der modernen analytischen Sprach- und Handlungsphilosophie zur praktischen Philosophie Hegels.
Vollender des deutschen Idealismus
In Europa herrschte lange Zeit eine ganz andere Lesart: Da stand Hegel für den Gipfel der größten Epoche deutscher Philosophie. Kant hat demnach den "Deutschen Idealismus" begründet, indem er die traditionelle Metaphysik erkenntniskritisch zertrümmerte.

Sein Nachfolger Fichte beseitigte die inneren Widersprüche der kantischen Transzendentalphilosophie, indem er das gesamte philosophische System auf das absolute Ich-Subjekt zurückführte. Schelling hielt dieser "These Ich" die "Antithese Nicht-Ich" entgegen, indem er die von Fichte zum Objekt degradierte Natur als andere Form des Geistes rehabilitierte.

Hegel schließlich vollzog eine Synthese von Subjekt und Objekt, indem er die Weltgeschichte als dialektischen Prozess des absoluten Geistes interpretierte, an dessen Ende die Einheit von Sein und Bewusstsein stehe.
Kritik von Kierkegaard bis heute
Die Plausibilität dieses Denkens wurde auch in Deutschland schon früh bezweifelt, etwa vom Existenzphilosophen Kierkegaard oder vom Nihilisten Nietzsche.

Die Zweifel wuchsen nach 1945: Hegels Leitsätze "Das Wirkliche ist das Vernünftige", "Das Wahre ist das Ganze" und "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" schienen nach Auschwitz diskreditiert.

Idealismusforscher wie Walter Schulz in Tübingen stellten seit den 50er Jahren zudem das alte Schema des linearen Denkwegs "Von Kant bis Hegel" (Richard Kroner) in Frage.
Selbstbeschränkung der Vernunft ...
Schulz erkannte: Nicht mit Hegel, sondern mit der Spätphilosophie Schellings und Fichtes hat der Idealismus seine überzeugendste, abschließende Form erreicht.

Recht haben demnach nicht die Allmachtsfantasien der hegelschen Vernunft, die alles zu begreifen vermeint und keine Grenze mehr kennt zwischen Endlichen und Unendlichem, Relativem und Absolutem.

Philosophischen Bestand hat vielmehr die Selbstbeschränkung der Vernunft, die ihre eigenen Grenzen erkennt, sich nicht selbst für absolut hält, sondern das Absolute als Abgrund und Horizont des Subjekts im Blick hält.
... statt Allmachtsfantasien
Diese transzendentale Bescheidenheit kehrt zum Denken Immanuel Kants zurück, von dem auch heute noch gesagt wird, was für Hegel nicht mehr gilt: An ihm führt in der Philosophie weltweit kein Weg vorbei.

Nicht Hegel, sondern Kant hat sich durchgesetzt. Schnädelbach formuliert das so: "Es gibt nur Kantianer und "halbe" Hegelianer, deren andere Hälfte kantianisch ist; also sind wir alle Kantianer."

Bernward Loheide, dpa, 13.11.06
->   Texte von Hegel (Projekt Gutenberg)
->   Hegel-Projekt (Uni Wien, Herbert Hrachovec)
->   Internationale Hegel-Gesellschaft
 
 
 
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01.01.2010