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"Neuer Sozialvertrag" statt "Kampf der Kulturen"  
  Der islamische Fundamentalismus bedroht westliche Werte, so die offizielle Lesart vieler aktueller Auseinandersetzungen. Nichts von einem Konzept des "Kampfs der Kulturen" hält der Kulturwissenschaftler Ton Nijhuis, vor kurzem zu Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Vielmehr handle es sich um einen Kampf innerhalb des Islams, bei dem es gelte, die moderaten Kräfte zu stützen.  
Eine Möglichkeit dazu sieht der wissenschaftliche Direktor des Duitsland Instituuts an der Universität Amsterdam in einem "neuen Sozialvertrag" zwischen Vertretern des Islams und westlicher Regierungen.

"Aufklärungsfundamentalismus" könne dabei nicht helfen, meint Nijhuis.
Von links nach rechts
Zivilcourage, so der Kulturwissenschaftler, sei lange Zeit ein Projekt der politischen Linken gewesen, die die liberale Gesellschaft gegen totalitäre Kräfte, Rassismus und die Unterdrückung von Minderheiten verteidigen wollten.

Das dabei vertretene Konzept der Toleranz werde nun aber auch von der politischen Rechten ins Spiel gebracht, unter dem Motto: "Wir müssen unsere Gesellschaft vor islamischem Fundamentalismus schützen".
Für moderate Schritte der Aufklärung
Doch nicht nur diesen islamischen Extremismus gebe es, sondern auch einen "Aufklärungsfundamentalismus". Aufklärung sei eine wunderbare Sache, "aber das heißt nicht, dass jeder sofort und auf der Stelle mit all ihren Segnungen und Freiheiten bedacht werden müsse, für die wir 300 Jahre lang gekämpft haben", meint Nijhuis.

Stattdessen plädiert er für einen "moderaten Mittelweg". Die westlichen Gesellschaften sollten die Projekte der Aufklärung mutig verteidigen, etwa die Rechte von Frauen und Homosexuellen, aber dabei nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
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Vortrag am IWM in Wien
Ton Nijhuis hat vor kurzem am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) einen Vortrag gehalten: "Zivilcourage, Multikulturalismus und politische Kultur. Deutschland, die Niederlande und Österreich im Vergleich", in Kooperation mit der Niederländischen Botschaft, Wien. Der Vortrag ist in der Audiothek des IWM als Download (mp3) verfügbar.
->   IWM-Audiothek
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Gesetze wichtiger als Toleranz
Toleranz alleine helfe dabei wenig. Toleranz habe in den Niederlanden in der Vergangenheit vor allem Wegschauen bedeutet. "Und das hat die Integration überhaupt nicht begünstigt und zu einem Ignorieren des Anderen, der Andersheit geführt."

Für wichtiger als Toleranz hält Nijhuis deshalb das Gesetz, "das für jeden gleich zählt, die Deutschen, die Österreicher und die Immigranten. Die Frage dann ist, wie weit wir per Gesetz Dinge zulassen oder verbieten, die nicht mit unseren Kulturtraditionen zusammenpassen."
Nur individuelle Emanzipation möglich
Multikulturalismus im klassischen Sinne funktioniert laut Nijhuis nicht. In den Niederlanden etwa sei man lange davon überzeugt gewesen, dass es sich bei Muslimen um "rückständige Gruppen" handelt, deren Emanzipation man mit Sozial- und Erziehungsprogrammen fördern könne wie andere Gruppen auch. Dies sei gescheitert.

"Das Problem und der Hauptfehler waren, dass wir sie immer als eine Gruppe betrachtet haben. Und jetzt sagen: Die Assimilation der ganzen Gruppe ist gescheitert. Wir sollten sie besser als Individuen sehen, denn auf dieser Ebene ist Emanzipation möglich", meint der Kulturwissenschaftler.
Neuer Sozialvertrag nötig
Für die konkrete Umsetzung einer solchen individuellen Emanzipation kann sich Nijhuis einen "neuen Sozialvertrag zwischen Moscheen und lokalen oder nationalen Regierungen" vorstellen. Dabei sollen Prediger dazu verpflichtet werden, in ihren Reden auf antidemokratischen oder westlichen Werten widersprechende Stellen zu verzichten.

"Wir müssen versuchen, die Moscheen dazu zu bewegen, eine Art Selbstzensur zu errichten. Nicht wir müssen aufpassen, wie wir über Moslems reden, sie müssen schauen, wie sie über westliche Werte sprechen, wenn sie im Westen leben", meint der Wissenschaftler.
Kein Kampf der Kulturen, sondern des Islams
Vom Konzept des "Kampfs der Kulturen" hält Nijhuis wenig. Seiner Ansicht nach findet die Auseinandersetzung nicht zwischen dem Westen und dem Islam statt, sondern innerhalb des Islams.

Einer großen Mehrheit moderater Moslems stehe eine kleine, aber starke Gruppe von Fundamentalisten gegenüber, die antiwestlich eingestellt sind. Dieser Kampf ist nach Ansicht Nijhuis' viel wichtiger. Und: "Wir müssen die moderaten Moslems dabei unterstützen."

[science.ORF.at, 15.11.06]
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Jill Zobel führte vor kurzem das Interview mit Toni Nijhuis, das demnächst auf FM4 ausgestrahlt wird.
->   FM4
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->   Duitsland Instituut Amsterdam
 
 
 
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01.01.2010