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Parallelen: Analyse von Psychen und Bildern  
  Zwar galt Sigmund Freud der Traum als "Königsweg ins Unbewusste". Aber auch in anderen Produktionen der Psyche offenbaren sich Mehrdeutigkeiten, die man analysieren kann - etwa in Witzen und Karikaturen. Der Kunsthistoriker Dario Gamboni vom IFK in Wien sieht in einem Gastbeitrag deutliche Parallelen zwischen Psychoanalyse und Bilder-Witzen.  
Witz, Karikatur und "unbewusste Vexierbilder" zur Zeit Freuds
von Dario Gamboni

Sigmund Freud interessierte sich für Bilder aller Art. In seinem Werk hat er sich aber hauptsächlich mit der hohen Kunst auseinandergesetzt.

Ein Grund dafür war wohl das soziale Ansehen der Kunst innerhalb der offiziellen Kultur: In dieser Verkörperung der bürgerlichen Werte auch einen Ausdruck des Unbewussten zu entdecken, war für die Psychoanalyse und ihren Deutungsanspruch eine wichtige Herausforderung.

Andererseits hat Freuds Methode Psychologen und Psychiater inspiriert, die eine größere Vielfalt von Bildern in verschiedener Weise befragten. Aus Gründen, die es kulturgeographisch zu untersuchen gäbe, waren drei von ihnen in Zürich beheimatet.
Bilder rätselhaft wie Träume
Der Pfarrer Oskar Pfister, der mit Freud einen wichtigen Briefwechsel fuhr, schlug einem französischen Maler vor, für ihn automatisch Zeichnungen als zu studierendes Material hinzukritzeln.

In einer 1913 veröffentlichten Studie analysierte er diese Bilder als eine dem Traum ähnliche "Kryptographie". Im selben Aufsatz schlug er vor, in den vollendeten Werken der Kunst "unbewusste Vexierbilder" zu finden, und entdeckte in Leonardos Anna Selbdritt mit Lamm eine Geiergestalt, die einem zentralen Motiv in Freuds Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci entsprach.

Freud nahm diese aus heutiger Sicht hauptsächlich rezeptionsgeschichtlich interessante "Entdeckung" ernst genug, um sie in der Neuausgabe seiner Studie zu integrieren.
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Vortrag in Wien
Dario Gamboni hält am Freitag, den 17. November 2006 um 18.00 c.t. im Sigmund Freud Museum (Berggasse 19, 1090 Wien) den Vortrag "Witz, Karikatur und 'unbewusste Vexierbilder' zur Zeit Freuds", gemeinsam veranstaltet vom IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften und der Sigmund Freud Privatstiftung.
->   IFK
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Die Klecks-Tests von Rohrschach
Ein Freund von Pfister, der Psychiater Hermann Rorschach, war schon als Kind von der Herstellung und Interpretation von Tintenflecken begeistert. Diese Art Bildproduktion war auch unter Nicht-Künstlern populär und genoss seit Justinus Kerners "Klecksographien" einen gewissen Grad an Anerkennung.

Auf dem "Deutenlassen von Zufallsformen" - einer Reihe von äußerst sorgfältig ausgewählten und reproduzierten Klecksen - basierte Rorschach, was bis heute der erfolgreichste "Projektions"-Test geblieben ist.

Eine Methode, die über die professionellen Kreise hinaus das Verständnis von Wahrnehmungspsychologie beeinflusste.
Jungs kollektives Unbewusste auch ein Bildermeer
Schließlich beschäftigte sich der wichtigste Schweizer Schüler Freuds, der vom Status des präsumtiven Nachfolgers zu demjenigen eines Rivalen ging, ebenfalls seit der Kindheit mit dem Visuellen:

Carl Gustav Jung baute aus Bildern unterschiedlichster Herkunft eine Art musée imaginaire, das Ausdruck des "kollektiven Unbewussten" der Menschheit - mehr als von deren Produzenten - sein sollte.
Karikaturen vernachlässigt
Dabei ist erstaunlicherweise die Karikatur vernachlässigt worden, obwohl sie dem Witz am nächsten steht, der Freud verholfen hatte, ein Modell für seine Analysen von Erzählungen und Kunstwerken zu entwickeln.

Zwei Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, Ernst Kris und Ernst Gombrich, versuchten in den 1930er Jahren Wesen und Wirkung der Karikatur mit Hilfe der Psychoanalyse zu verstehen.
Vexierbilder: Manifester und latenter Inhalt
Insbesondere Kris lag dieser Versuch am Herzen, da er gleichzeitig Kunsthistoriker und Psychoanalytiker war. Kris und Gombrich behandelten die Karikatur auf einer allgemeinen Ebene und schenkten der Produktion der Jahrhundertwende keine besondere Aufmerksamkeit.

Es fällt aber auf, dass diese nicht nur zeitlich mit der Entstehung der Psychoanalyse Parallelen aufweist. Einen wichtigen Typus bilden die Vexierbilder, in denen die Betrachter aufgefordert werden, eine im Bild versteckte Figur zu entdecken.

Wie Freud es im Traum und anderen psychischen Produktionen vorschlug, unterscheiden die Vexierbilder zwischen manifestem und latentem Inhalt, und der Betrachter, ähnlich dem Analytiker, nimmt ihnen gegenüber eine inquisitorische Haltung an.
Auch ein Projekt der Avantgarde
Diese Parallele betrifft aber nicht nur die Bildpublizistik, da die Erforschung der visuellen Mehrdeutigkeit gleichzeitig von den Künstlern der Avantgarde praktiziert wurde.

Die zwei Gebiete waren allerdings nicht streng getrennt: Karikaturisten kommentierten die künstlerischen Neuigkeiten, Künstler schätzten Karikaturen, und manchmal waren die Produzenten dieselben - wie bei Lyonel Feininger oder Marcel Duchamp.
Bild anschauen schwieriger als machen
 


Ein treffender Kommentar zur Transformation der ästhetischen Kommunikation um 1900 lieferte 1907 ein französischer Karikaturist, als er die Situation eines normalen Ausstellungsbesuchers beschrieb, der versucht, auf dem Kopf stehend ein Gemälde zu entziffern: "Das Schwierige ist nicht, ein Bild zu machen, sondern zu wissen, wie man es anschauen soll!" (siehe oben)

Vor dieser Herausforderung des Bildes ist der Betrachter bis heute, bewusst oder unbewusst, ein Erbe der frühen Analytiker geblieben.

[16.11.06]
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Über den Autor
Dario Gamboni ist seit 2004 Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Genf, Kurator zahlreicher Ausstellungen, Publikationen: u.a. Un iconoclasme moderne. Théorie et pratiques contemporaines du vandalisme artistique (Zurich/Lausanne 1983); La plume et le pinceau. Odilon Redon et la littérature (Paris 1989); Zerstörte Kunst, Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert (Köln 1998); Odilon Redon, "Das Faß Amontillado": Der Traum eines Traumes (Frankfurt/Main 1998); Potential Images: Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art (London 2002).
->   Dario Gamboni, Universität Genf
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->   Sigmund Freud Museum
->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
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01.01.2010