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Cornelius Castoriadis: Denker der Autonomie  
  Im deutschen Sprachraum ist der Philosoph Cornelius Castoriadis nicht besonders bekannt. Der vor neun Jahren verstorbene französische Denker lag immer quer zu aktuellen Philosophie-Strömungen wie Poststrukturalismus und Dekonstruktion.  
Auf Deutsch ist zwar sein Hauptwerk erschienen - "Die Gesellschaft als imaginäre Institution" -, aber darüber hinaus nur ein weiteres Buch und ein paar verstreute Aufsätze. Diese Lücke versucht nun eine neue Edition zu füllen: Der erste Band ausgewählter Schriften von Cornelius Castoriadis ist vor kurzem erschienen.

Der Titel "Autonomie oder Barbarei" verrät schon, was im Zentrum des Denkens von Cornelius Castoriadis gestanden ist: die Suche nach den Möglichkeiten von individueller und gesellschaftlicher Autonomie.
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Das Buch "Autonomie oder Barbarei" ist im Verlag Edition AV (221 Seiten, 17 Euro) erschienen.
->   Mehr über das Buch (Edition AV)
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Bewegte Jugend in Griechenland
Bild: EPA
Cornelius Castoriadis 1982 in Paris
Cornelius Castoriadis wurde 1922 in Istanbul geboren und wuchs in Athen auf. Im politisch bewegten Griechenland der 1930er Jahre entdeckte er den Marxismus und trat der Kommunistischen Jugend bei.

Die Erfahrungen seiner frühen Jahre sollten sein späteres Leben und Denken prägen. Auf der einen Seite die Brutalität durch die rechte Militärdiktatur unter Ioannis Metaxas und die Besetzung Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht.

Auf der anderen Seite die Kompromisslosigkeit der Kommunistischen Partei, die gegen vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen vorging und bloß die Macht im Staat erringen wollte.
Distanzierung von Marxismus und Dekonstruktion
1945 ging Castoriadis nach Frankreich und gründete eine politische Gruppe und Zeitschrift mit dem Titel "Sozialismus oder Barbarei". Ziel war dabei am Anfang die Kritik von Stalinismus, Trotzkismus und Marxismus. Später kamen dann Abrechnungen mit den Modephilosophien seiner französischen Philosophie-Kollegen dazu.

Für Strukturalismus, Existenzialismus und Dekonstruktion hatte er meistens nur Spott über. Stattdessen formulierte er eine Philosophie, in der ein Gedanke im Zentrum steht: die individuelle und gesellschaftliche Autonomie des Menschen.
Autonomie: Erfunden von den Griechen
Karl Reiter, Lektor für Philosophie an der Universität Wien, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Castoriadis. Den Ursprung seines Autonomie-Gedankens sieht Reiter in der antiken Bürgergemeinschaft:

"In der griechischen Polis wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit so etwas wie Autonomie gedacht und auch ansatzweise verwirklicht - trotz der Mängel wie Ausschluss der Frauen, Sklaven und Zugewanderten."
Eine "Schöpfung aus dem Nichts"
Im Gegensatz zu früheren Gesellschaften und zu vielen danach haben die Griechen den Ursprung ihrer Gesetze in ihrer eigenen Gesellschaft gesehen, meint Castoriadis. An die Stelle der Welterklärung durch Götter und Mythen ist bei ihnen die Gesetzgebung durch die Bürger getreten.

Castoriadis beschreibt diesen Vorgang mit einem Begriff aus der christlichen Theologie: creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts. Die Griechen hätten Demokratie und Autonomie selbst erfunden. Man kann zwar Umstände benennen, die für diese Schöpfung hilfreich waren, meint Karl Reiter. Letztlich erklären könne man sie aber nicht.
Gesellschaft und Geschichte wird gemacht
Der Gedanke der Schöpfung ist Castoriadis deshalb so wichtig, weil er sich damit von anderen Erklärungen von Geschichte und Gesellschaft abgrenzen möchte: einerseits von Göttern und Mythen, und andererseits von vermeintlichen Gesetzen der Geschichte, wie sie nach Hegel und Marx formuliert wurden.

Und erst recht kritisiert Castoriadis das Verständnis, wonach heute die liberale bürgerliche Gesellschaft und die Gesetze des Marktes triumphiert hätten und die Geschichte an ihr Ende gekommen sei.
Zukunft bleibt offen
Demgegenüber betont er weiter die Wichtigkeit des Projekts der Autonomie, die er nirgendwo auf der Welt auch nur ansatzweise verwirklicht sieht.

"In dem Sinne versucht er eine Philosophie zu entwickeln, die die Zukunft offen hält, die die ontologische Dimension des Handelns - und das ist das Schaffen des Neuen, das Schöpfen des Neuen - offen hält", erklärt Karl Reiter.
Neue Schriften auf Deutsch
Die nun erstmals auf Deutsch vorgestellten Schriften von Castoriadis aus den 1980er und 1990er Jahren gehen dieser Philosophie nach. Sie fragen, wie eine Politik der Autonomie heute aussehen könnte. Mehrere Interviews und Abhandlungen werfen dabei mehr Fragen auf als sie beantworten.

Und das scheint ganz im Sinne von Castoriadis zu sein. Denn für ihn waren Demokratie und Autonomie Projekte, die die Menschen gemeinsam angehen müssen. Und nichts, was sich aus überlieferten Gesetzen oder Erzählungen ableiten lässt.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 17.11.06
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Radio-Hinweis
Cornelius Castoriadis widmet sich auch ein Beitrag des Ö1 Dimensionen Magazins am Freitag, 17. November, 19.05 Uhr.
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01.01.2010