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Psychoanalyse als "unnatürliche" Wissenschaft  
  Welche Bedeutung Sigmund Freud für die Kultur- und Sozialwissenschaften hatte, untersucht knapp vor Ende des Freudjahrs 2006 eine Tagung in Wien. Der Soziologe und Publizist Helmut Dahmer hebt dabei das besondere Wissenschaftsverständnis der Psychoanalyse hervor, die es mit zweideutigen Objekten zu tun habe - nämlich mit Subjekten. Daraus sei eine "unnatürliche" Wissenschaft geworden, die doch keine Geisteswissenschaft sei, meint Dahmer in einem Gastbeitrag.  
Freuds Bedeutung für Kultur- und Sozialwissenschaften
Von Helmut Dahmer

Im Zuge seiner Aufklärung der Hysterien und Träume wandelte sich der Naturwissenschaftler Freud unvermerkt zum Historiker, zu einem "Archäologen" der individuellen und kulturellen Seelengeschichte.

Die Naturwissenschaft hat es mit "Objekten" zu tun, die sich beobachten, messen und manipulieren lassen. Sie sucht nach (möglichst) allgemeinen Gesetzen, die "erklären" (oder "prognostizieren"), dass (unter bestimmten Umständen) bestimmte Faktoren bestimmte Effekte zeitigen.
Das Subjekt als Objekt
Eine Richtungsänderung des Erkenntnisinteresses, die Abwendung von der äußeren Natur und die Hinwendung zu den Subjekten und ihren sozialen Verhältnissen, die Fokussierung der zweiten anstelle der ersten Natur wird Menschen, die Wissenschaft mit Naturwissenschaft identifizieren, befremden.

Die kopernikanische Wende, die Freud und andere Kritiker vollzogen, als sie sich dem noch unbekannten "Objekt" zuwandten, das ein Subjekt ist, werden Szientisten für eine "unnatürliche" Volte halten, und das Interesse an der Genese und an der Überwindung von Institutionen, am Vergessen und am Erinnern für ein "unwissenschaftliches", wenn nicht gar subversives.
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Symposion: "Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung"
Zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud 2006 veranstalten das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, das Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz und das Österreichische Museum für Volkskunde die Fachtagung "Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung" ein.
Zeit: 23.-25. November 2006
Ort: Österreichisches Museum für Volkskunde, 1080 Wien, Laudongasse 15-19
->   Mehr zu der Veranstaltung
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Kritiker der "zweiten Natur"
Freuds wissenschaftliche Beschäftigung mit "obskuren" Phänomenen wie Hysterie und Traum, sein Versuch, im "Unsinn", den die Subjekte produzieren, einen Sinn zu entdecken, seine Hinwendung zur Kulturgeschichte als Seelengeschichte führte ihn von der Objekt- zur Subjektwissenschaft.

Er wähnte, noch immer "Natur"-Wissenschaft zu treiben, und war doch, seinen wunderlichen "Objekten" zuliebe, längst schon zu einem Kritiker der "zweiten Natur" geworden, einer Kultur, die viel zu viele Individuen "erdrückt".
Eine "unnatürliche" Wissenschaft
Wenige Jahre zuvor hatte Nietzsche die von ihm entwickelte "genealogische" Kritik der Moral eine "unnatürliche" Wissenschaft genannt. Die Methodologie solcher "unnatürlichen" Wissenschaften - die sich von den Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden und beider Verfahren kombinieren - ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Marx, Nietzsche und Freud arbeitsteilig "erfunden" oder wiedergefunden worden.

"Unnatürliche" Wissenschaften haben es mit "Objekten" zu tun, die eigentlich Subjekte sind; solche "Objekte" sind in der Lage, auf Befunde, die sie selbst betreffen, zu reagieren.

Das Verfahren dieser kritischen Wissenschaften ist darum kein monologisches, sondern ein (potenziell) dialogisches, ihr Ziel kein technisches, sondern ein praktisches.
Reden statt Skalpell
Was den Naturwissenschaftler Freud dazu bewog, sich über das Tabu hinwegzusetzen, das die Helmholtz-Schule über das "spekulative" Denken verhängt hatte, ist leicht zu sehen.

Er suchte nach einer Therapie für Patienten, denen mit Droge und Skalpell nicht zu helfen ist, wohl aber mit "Einreden und Ausreden", weil sie nicht an der "ersten" Natur (nämlich der ihres Organismus), sondern an der "zweiten", also an ihrer Kultur, kranken.
Suche nach einem Ausweg aus der "Mordgeschichte"
Dieser Kultur, die ohne Pogrome und Massaker, ohne den ständigen Kampf gegen innere und äußere "Feinde" nicht auskommt, stand Freud skeptisch gegenüber: "Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient."

Als Angehöriger einer diskriminierten und Jahrhunderte lang verfolgten Minderheit suchte er nach einem Ausweg aus der Geschichte als Mordgeschichte, also nach einer Kultur, "die keinen mehr erdrückt".
Werkzeug Dialog
Warum hielt aber Freud zeit seines Lebens daran fest, auch die Psychoanalyse sei eine Art "Naturwissenschaft"? Dem Naturschein verdinglichter Institutionen (oder "Mechanismen"), also ihrer "Unverständlichkeit", sind quasi-naturwissenschaftliche Verfahren (Beobachtung, Messung und Erklärung) durchaus angemessen.

Darum gehören weder die Psychoanalyse noch die Soziologie zu den "Geisteswissenschaften". Ihre Objekte sind zweideutig und ihre Methoden zwiespältig.

Das Unverständliche der Phänomene, mit denen sie es zu tun haben, erschließt sich dem Verständnis nur in dem Maße, wie das monologische Verfahren zu einem dialogischen wird, das institutionell befangene ("objektivierte") Subjekt sich geltend macht und sich seiner vergessenen Autorschaft erinnert.
Institutionen "lesen"
Stößt das Verstehen auf Grenzen, so muss der Kritiker auf provisorische Erklärungen zurückgreifen, die der Statthalter eines künftigen Verstehens sind. Institutionen geben ihr Geheimnis nicht ohne weiteres preis. Sie sind für uns nicht "lesbar" wie Texte, die in einer bekannten Sprache abgefasst sind.

Institutionen gleichen vielmehr den steinernen Monumenten einer untergegangenen Kultur; sie sind zwar über und über mit "Hieroglyphen" bedeckt, doch müssen wir auf einen Champollion warten, der sie für uns entziffert.

[23.11.06]
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Über den Autor
Helmut Dahmer (Jg. 1937) lehrte 1974-2002 Soziologie an der TU Darmstadt. 1968-1992 war er Redakteur und Herausgeber der psychoanalytischen Monatszeitschrift "Psyche". Seit 2002 lebt er als freier Publizist in Wien.

Publikationen (Auswahl): Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke. (1973; 1982); Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart. (1994); Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert. (2001); Die unnatürliche Wissenschaft. Freud und die Probleme der Soziologie. (In Vorbereitung.)
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01.01.2010