News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft .  Umwelt und Klima 
 
Experte: Landreformen gegen Welthunger  
  Am 10. Dezember ist Internationaler Tag der Menschenrechte. Zu diesen fundamentalen Rechten zählen die Vereinten Nationen auch das Recht auf Nahrung. Dennoch leiden weltweit 845 Millionen Menschen an Hunger oder chronischer Unterernährung. Zum 20. Geburtstag von FIAN, einem internationalen Netzwerk für das Menschenrecht auf Nahrung, beschreibt ihr Obmann Ralf Leonhard in einem Gastbeitrag, wie Hunger nach wie vor als "Waffe" eingesetzt wird. Wichtigstes Mittel zur strukturellen Bekämpfung des Problems sind seiner Ansicht nach Landreformen.  
Hunger als Waffe
Von Ralf Leonhard

Hunger bringen wir gewöhnlich mit Naturkatastrophen in Verbindung: Dürre, Hochwasser, Heuschreckenplage. Zu unrecht. Denn nur zehn Prozent der Hungersnöte haben ihren Ursprung in den Unbilden der Natur.

Fast immer haben sie strukturelle Ursachen: Mao Zedongs Reformen in China hinterließen allein in den Jahren 1959 bis 1961 zwischen 16 und 70 Millionen an Hungertoten.

Im Biafra-Krieg (1967-1979) in Nigeria starben an die drei Millionen Menschen an Hunger. Die von England provozierte große Hungersnot in Irland 1845 kostete wohl mindestens eine Million Menschen das Leben. Etwa ebenso viele wanderten aus.

Der Weltkatastrophenbericht 1996 zählte nicht weniger als 31 Konflikte (von Sierra Leone bis Bosnien und Tschetschenien) in allen Kontinenten auf, bei denen in den 1990er Jahren Hunger als Waffe eingesetzt wurde.
Es wird genügend Nahrung produziert
854 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger oder chronischer Unterernährung, rechnet die Welternährungsorganisation FAO vor. Nicht, weil die Welt zu wenig Nahrungsmittel produziert. Das beweisen schon die rund eine Milliarde Menschen, die krankhaft übergewichtig sind, übersättigt, falsch ernährt.

Hunger, das sollte man sich immer vor Augen halten, bedeutet, dass die Kinder in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung zurückbleiben, erblinden oder durch die Schwächung des Immunsystems an heilbaren Krankheiten sterben. Eine Gesellschaft, die hungert, hat keine Chance, sich zu entwickeln.

Animierte Hunger-Weltkarte der FAO
...
Filmtage in Wien
Vom 1.-3. Dezember finden in Wien die Filmtage "Hunger.Macht.Profite" mit Dokumentationen zum Menschenrecht auf Nahrung statt.
->   Programm der Filmtage
...
Wie aus humanitärer Hilfe ...
Der Film "Septemberweizen" von Peter Krieg weist nach, wie beispielsweise Weizen, als Nahrungsmittelhilfe getarnt, als Waffe gegen ein ganzes Volk eingesetzt wird.

Der Mechanismus ist einfach. Die Überschussproduktion wird mit staatlichen Subventionen im Land X losgeschlagen oder anlässlich einer Dürrekatastrophe als humanitäre Hilfe gespendet.
... Abhängigkeit produziert werden kann
Die Bevölkerung, die sich bisher von anderen Grundnahrungsmitteln ernährt hat, gewöhnt sich an billiges Brot. Weizen wird daher weiterhin importiert, die eigene Getreideproduktion zurückgefahren. Denn so billig können die Bauern gar nicht produzieren.

So wird ein Land abhängig von einem Großlieferanten und daher politisch erpressbar. In den USA wurde offen ausgesprochen, dass so Außenpolitik gemacht wird. In Europa gibt man sich weniger martialisch. Aber die Effekte sind oft die gleichen.
Menschenrecht ohne Durchsetzungsinstrument
Die Vereinten Nationen haben in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und später im Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte (1966) das Recht auf Nahrung als fundamentales Menschenrecht anerkannt.

Allerdings gibt es kein wirksames Durchsetzungsinstrumentarium für diese Rechte, wenn die einzelnen Staaten sie nicht in ihrer Verfassung oder ihrer Gesetzgebung verankert haben.
Freihandel verschärft Problem
Die Freihandelsideologie, wie sie die WTO vertritt, oder wie sie zwischen den USA und den meisten lateinamerikanischen Staaten bilateral in Zollfreiabkommen gegossen wird, fördert die strukturelle Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung.

Denn den schwachen Staaten wird nach dem Prinzip der komparativen Kostenvorteile die Rolle der Exporteure von entbehrlichen Produkten zugewiesen während die Vereinigten Staaten großflächig angebauten Mais, Weizen oder Reis in den Süden exportieren.
Bauern emigrieren in die Städte
Mit den subventionierten Produkten können die Kleinbauern, die traditionell Grundnahrungsmittel anbauen, nicht konkurrieren.

Sie müssen Monokulturen von Soja, Zuckerrohr oder Erdnüssen weichen. Da diese hochmechanisierten Produkte kaum Arbeitskräfte benötigen, bleibt den Bauern nur die Suche nach Lohnarbeit in den Städten oder die Emigration.

Manche Volkswirtschaften würden heute ohne die Geldsendungen der Migranten an ihre Angehörigen zusammenbrechen. Ohne Alternativen für die Landbevölkerung reift in den Städten eine soziale Explosion heran.
Landreformen könnten helfen
Ein Weg, die Bombe zu entschärfen, ist die Agrarreform. Landreformen haben einen schlechten Ruf, weil sie in der Vergangenheit meist zu wenig konsequent durchgezogen wurden oder am Widerstand der Großgrundbesitzer scheiterten.

Doch Länder wie Taiwan oder Südkorea, deren Wirtschaftspolitik heute gepriesen wird, haben nach dem Krieg die Grundlage für ihren Aufschwung mit Landreformen gelegt.
Hat auch die Weltbank erkannt
Erst durch die Demokratisierung der Produktionsverhältnisse konnte eine breite Schicht von Konsumentinnen und Konsumenten geschaffen werden, die sich die später erzeugten Industrieprodukte leisten konnte.

Selbst in der Weltbank hat man inzwischen erkannt, dass die Umverteilung allein über den Markt nicht funktioniert. Und die von der brasilianischen Landlosenbewegung MST eroberten Fazendas, die heute rentabel produzieren und in ihrem Umfeld den Markt beleben, beweisen, dass Agrarreform ein zukunftweisendes Instrument sein kann.

[1.12.06]
...
Über den Autor
Der Autor ist Jurist, freier Journalist und Vorsitzender von FIAN-Österreich. FIAN (FoodFirst Informations- und Aktionsnetzwerk) ist ein in über 60 Ländern aktives Netzwerk, das sic für das Menschenrecht auf Nahrung einsetzt.
->   FIAN-Österreich
...
->   FAO
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft .  Umwelt und Klima 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010