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Kannibalistische Riten bei Neandertalern  
  Die Neandertaler waren Kannibalen: Das legt zumindest eine Analyse spanischer Anthropologen nahe. Sie fanden auf 43.000 Jahre alten Knochen Bearbeitungsspuren, die auf den Verzehr von menschlichem Hirn und Knochenmark schließen lassen.  
Das kannibalistische Verhalten dürfte allerdings nicht wegen Nahrungsknappheit entstanden sein - Fachleute vermuten eher einen rituellen Hintergrund.
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"Paleobiology and comparative morphology of a late Neandertal sample from El Sidron, Asturias, Spain" von Antonio Rosasa et al. erscheint demnächst auf der Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0609662104).
->   Abstract (sobald online)
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Kranke Knochen oder neue Art?
Als Steinbrucharbeiter 1856 im Neandertal menschliche Knochen entdeckten, war zunächst keineswegs klar, dass es sich dabei um eine neue, bislang unbekannte Menschenart handeln müsse. Der Lehrer Johann Carl Fuhlrott, dem die Knochen übergeben wurden, meinte darin einen fossilen Menschen zu erkennen. Und das, obwohl er als gläubiger Christ gar nicht an die Veränderbarkeit der Arten glaubte.

Der deutsche Evolutionist und Pathologe Rudolf Virchow hingegen behauptete, die Knochen seien nichts anderes als rachitische Degenerationen eines modernen Menschen - von einer neuen Spezies keine Spur. Man darf sich dabei an die aktuellen Debatten um den Flores-Menschen erinnert fühlen, bei der ebenfalls Neospezies- und Fehlbildungs-Fraktionen um die Deutungshoheit im Fossilgebiet streiten.

Im Fall des Neandertalers sollte sich jedenfalls der Amateur Fuhlrott gegen den etablierten Forscher Virchow durchsetzen: Der Neandertaler war tatsächlich eine eigenständige Menschenart, die, wie man heute weiß, Kontakt zu Homo sapiens hatte und erst vor 30.000 Jahren ausstarb.
Kulturwesen Neandertaler
Auch nach dieser grundsätzlichen Klärung blieb das Bild von unserem Verwandten recht wechselhaft. Zunächst stellte man sich den Neandertaler als plump-kräftigen Menschen vor, der speziell an die widrigen Bedingungen der Eiszeit angepasst war. Was so nicht stimmt: Die Kälte machte den Neandertalern vermutlich mehr zu schaffen, als den modernen Menschen, wie britische Forscher im letzten Jahr herausfanden (Nature 438, 51).

Auch in anderer Hinsicht gibt es Korrekturbedarf. Denn die historische Darstellung des grobschlächtigen Neandertalers mit dicken Augenbrauenwulsten war nicht nur eine physiognomische. Sie vermittelte unterschwellig auch eine gewisse geistige Trägheit, wenn nicht gar Tumbheit. Und diese Botschaft wird man gar nicht so einfach los, auch wenn das Klischee von der Forschung längst widerlegt wurde.

Fakt ist: Der Neandertaler war eine durchaus kunstfertige Spezies mit einer eigenständigen Kultur, die jener des steinzeitlichen Homo sapiens um nichts nachstand.
Umschwung bei der Kreuzungs-These
Heiß diskutiert wurde in den letzten Jahren auch die Frage, ob sich Neandertaler und moderner Mensch jemals gekreuzt haben. Lange Zeit galt das als sehr unwahrscheinlich, aber heuer - just im Jubiläumsjahr - kam der endgültige Umschwung: Ende Oktober präsentierte eine Gruppe um den US-Forscher Erik Trinkaus Fossilien, deren Wuchs eine Kreuzung der beiden Menschenarten nahe legt (PNAS 103, 17196).

Und zwei Wochen später legte ein Team um den Paläo-Genetiker Svante Pääbo nach und berichtete von molekularen Hinweisen auf ein Tête-à-tête der beiden Arten (Nature 444, 330).
Hinweise auf Kannibalismus
 
Bild: PNAS

Bei der Rekonstruktion der Ernährungsgewohnheiten scheint ebenfalls nicht das letzte Wort gesprochen, wie nun eine Studie spanischer Anthropologen zeigt. Dass der Neandertaler gerne Fleisch aß, wusste man schon bisher, nicht ganz so bekannt dürfte die Tatsache sein, dass darunter bisweilen auch Menschenfleisch war.

Antonio Rosas vom Nationalen Naturwissenschaftlichen Museum in Madrid und seine Mitarbeiter untersuchten 43.000 Jahre alte Schädel, Knochen und Zähne aus dem Nordwesten Spaniens. Dabei stellten sie fest, dass manche Fundstücke typische Schnittspuren und Bruchstellen aufweisen, die auf Kannibalismus hindeuten (Bild oben, Pfeile).

Mit anderen Worten, der Neandertaler besserte seinen Speisplan vermutlich mit Hirn und Knochenmark, vielleicht auch mit Fleisch seiner Artgenossen auf. Allerdings ist diese Interpretation noch mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, da zur Untermauerung dieser These üblicherweise Tierknochen als Vergleichsstücke verwendet werden. Und die fehlen in jenem Höhlensystem in El Sidrón, aus dem die Fundstücke stammen.
Ritueller Hintergrund
Zahnanalysen zeigen zudem, dass die Neandertaler von El Sidrón keine fetten Jahre erlebten: Sie litten unter chronischer Mangelernährung, speziell in der Kinder- und Jugendzeit. Könnte der Kannibalismus eine Reaktion auf die schwierige Nahrungssituation gewesen sein?

Nein, meint der Berliner Anthropologe Herbert Ullrich: "Kannibalismus hat es zwar beim Neandertaler mit ziemlicher Sicherheit gegeben. Das kann man etwa auch bei den 130.000 Jahre alten Knochen nachweisen, die in der Krapina-Höhle bei Zagreb gefunden wurden. Der Hintergrund ist wohl ein ritueller, vermutlich handelte es sich dabei um Totenriten. Ich schließe allerdings aus, dass der Kannibalismus entstand, um den Energiebedarf zu decken."

Als signifikantes Unterscheidungsmerkmal zwischen modernem Menschen und Neandertaler eigne sich der Kannibalismus im Übrigen nicht, so Ullrich: "Auch bei Homo sapiens gibt es sehr gute Hinweise auf Kannibalismus. Die reichen allerdings bis in die historische Zeit hinein."

Robert Czepel, science.ORF.at, 5.12.06
->   Neandertaler - Wikipedia
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01.01.2010