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Hannah-Arendt-Preis 2006 für Julia Kristeva  
  Der diesjährige Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geht an die bulgarisch-französische Sprachphilosophin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva. Der mit 7.500 Euro dotierte Preis wurde im Rahmen einer Festveranstaltung im Rathaus der Stadt Bremen übergeben.  
In ihrer Begründung würdigte die internationale Jury die Fähigkeit der Wissenschaftlerin, die Grenzen der akademischen Disziplinen in Richtung Öffentlichkeit zu überschreiten. Kristevas besonderes Verdienst sei es, die Grenzen zwischen Psychoanalyse und politischem Denken durchlässig gemacht zu haben.
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Hannah-Arendt-Preis 2006
Der Hannah-Arendt-Preis wurde 1994 in Bremen ins Leben gerufen und wird vom Senator für Bildung und Wissenschaft und der Heinrich-Böll-Stiftung - einer politischen Stiftung der Grünen - finanziert. Verliehen wird er an Persönlichkeiten, die Hannah Arendts philosophische Ansätze weiterdenken und für die öffentliche Diskussion von Gegenwartsproblemen fruchtbar machen. Julia Kristeva, Preisträgerin 2006, hält anlässlich der Verleihung am 15. Dezember 2006 einen Festvortrag.
->   Programm der Verleihung
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Kristeva und Arendt
Schon ein Blick auf die Buchtitel von Julia Kristeva zeigt, dass Hannah Arendt (1906-1975) mit ihren politischen Theorien und ihren Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Gewalt die französische Theoretikerin stark beeinflusst hat.

2001 hat Kristeva Arendt den ersten Band ihrer auf drei Bände angelegten Typologie über "Das Weibliche Genie. Das Leben, der Wahn, die Wörter" gewidmet. Für Arendt, die 1940 in die USA emigrierte und dort als Professorin für politische Theorie tätig war, steht dabei das Stichwort "Leben". Unter den Stichwörtern "Wahn" und "Wörter" handelt Kristeva die Biographien der Psychoanalytikerin Melanie Klein und der Schriftstellerin Colette ab.

"Im Angesicht des Traditionsbruchs der Moderne eine Erneuerung des öffentlichen Denkens zu wagen" - diesen Ansatz Hannah Arendts habe Julia Kristeva beispielhaft aufgegriffen, erklärt die Heinrich Böll-Stiftung in ihrer Aussendung zur Preisverleihung. Kristeva habe dabei Verbindungen zwischen psychoanalytischer Theorie und politischem Denken enthüllt, die bislang verborgen geblieben seien.
Die subversive Kraft der Poesie
Julia Kristeva, Professorin am Institut Sciences des textes et documents an der Universität Paris VII - Denis Diderot, wurde 1941 in Sliwen in Bulgarien geboren. Sie studierte Romanistik und kam im Rahmen eines französisch-bulgarischen Austauschprogramms 1965 nach Paris. Dort studierte sie bei Roland Barthes, Lucien Goldmann und Jacques-Marie Emile Lacan. 1974 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über "Die Revolution der poetischen Sprache".

Ihre dort formulierte Grundüberzeugung, wonach die "gesellschaftliche Umwandlung" nicht von der sprachlichen zu trennen sei, vertrat Kristeva auch als aktives Mitglied der literaturkritischen Gruppe "Tel Quel", der sie 1966 beitrat. Die Zeitschrift "Tel Quel" (frz. "wie es ist") war in den 1960er und 1970er Jahren ein zentrales Sprachrohr poststrukturalistischer Theoretiker - von Michel Foucault bis Jacques Derrida.

Zentrales Anliegen dieser Gruppe war es, auf die Despotie der herrschenden Sprache hinzuweisen. Kristeva betonte in diesem Zusammenhang die subversive Kraft der Poesie: Da sie die Logik des Sprachsystems herausfordere, sei sie in der gesellschaftlichen Ordnung das "letzte Mittel, sie zu verändern oder zu unterlaufen".
->   "Tel Quel" - Wikipedia
->   Poststrukturalismus - Universität Essen
Verknüpfungen: Sprachphilosophie und Psychoanalyse
Bei der Entwicklung ihrer Theorien über die Entwicklung des sprechenden Subjekts und dessen Positionierung in den herrschenden Diskursen konnte Kristeva nicht nur auf ihre akademische Sozialisation zurückgreifen. Seit 1979 praktiziert die stark von der Psychoanalyse Freuds und Lacans geprägte Wissenschaftlerin auch selbst als Psychoanalytikerin.

Zentral für ihre Sprachphilosophie und Psychoanalyse verbindenden Ansätze ist der Dualismus von "semiotisch" und "symbolisch". Das "Semiotische" beschreibt die Triebe und deren Artikulation, das "Symbolische" die Bedeutungen und Repräsentationen. Mit der Ablösung des Kleinkindes von der Mutter, so Kristeva, werde das Semiotische - "ein lustvoller Artikulationsraum, der noch nicht von der männlich geprägten Sprache beeinflusst bzw. gestört ist" (Anna Babka) - durch das Symbolische überlagert. Das Kind übernehme die phallische Ordnung.

Das Semiotische gehe allerdings dennoch nicht verloren, erklärt Kristeva. Im Prozess der Sinngebung, der nie abgeschlossen ist, durchkreuze das Semiotische unablässig das Symbolische und unterlaufe dessen Setzung. Mit diesem Konzept gelingt es Kristeva, Zusammenhänge zwischen der Instabilität individueller Identität und der Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und Ordnungen herzustellen.
Theoretikerin der Intertextualität
Bekannt wurde Kristeva vor allem auch als Theoretikerin der "Intertextualität", die auf Michail Bachtins Theorie der Dialogizität aufbaut. Diese besagt, dass alle Wörter, die wir benutzen, immer schon von den Spuren geprägt sind, die andere Sprecher vor uns mit ihren jeweiligen Absichten in diesen Wörtern hinterlassen haben. Kristeva machte diesen Begriff zur zentralen Kategorie einer umfassenden Textwissenschaft.

"Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes", heißt es in ihrem Aufsatz "Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman" (1967).

Wenn Texte keine abgrenzbaren Einheiten sind und ihre Bedeutungen immer weit über die vom Autor beabsichtigten Anspielungen hinausreichen, werden auch die traditionellen Grenzen und Hierarchien zwischen Autor, Werk und Leser in Frage gestellt. Denn jeder Leser, so Kristeva, nimmt mit seiner Lektüre selbst aktiv am Prozess der Transformation des Zeichenmaterials teil.
->   Intertextualität - WikiLingua
Auszeichnungen und Kritik
Julia Kristevas Schriften sind thematisch breit gestreut: Sie umfassen Arbeiten zur Psychoanalyse der Gegenwart, zur Kultur- und Religionsphilosophie, zur instabilen Identität der Frau in der patriarchalen Ordnung ("Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China", dt. 1982) und zur abendländischen Xenophobie ("Fremde sind wir uns selbst", dt. 1990).

Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrendoktoraten ausgezeichnet; unwidersprochen sind ihre Ansätze jedoch nicht geblieben. Kritik kam vor allem von Seiten der feministischen Literaturtheorie: Kristeva würde geschichtslos argumentieren, das Poetische zu hoch bewerten und eine unkritische Haltung zum Phallozentrismus der Psychoanalyse pflegen.

Neuere Strömungen der Gender Studies haben ihre Überlegungen jedoch aufgenommen und weiterentwickelt.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 14.12.06
->   Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.
->   Offizielle Homepage von Julia Kristeva
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->   Hannah Arendt: Optimismus trotzt neoliberalem "Zwang"(2.12.05)
 
 
 
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01.01.2010