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Nazi-Rhetorik gegen Kriegsende europafreundlich  
  Die Nationalsozialisten benutzten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verstärkt den Begriff "Europa", um ihre Ideologien zu verbreiten und um praktisch-militärische Ziele zu verfolgen.  
"Europa" diente der Nazi-Propaganda dabei gewissermaßen als "Trojanisches Pferd". Zu diesem Schluss kommt der Wissenschaftshistoriker Malte Gasche, der derzeit seine Dissertation über den "Germanischen Wissenschaftseinsatz" der SS in den Jahren 1942-45 am Renvall-Institut der Universität Helsinki fertig stellt.
Hintergrund: Pangermanismus
Die SS war im Sommer 1942 mit der alleinigen Verbreitung "pangermanischen" Gedankengutes in Nord- und Westeuropa beauftragt worden. Während seiner ideengeschichtlichen Recherchen fand Gasche heraus, dass die Nazi-Propaganda zum Kriegsende immer häufiger die Schlagworte "Europa" und "europäisch" benützte.

So wurde etwa die "Germanische Leitstelle" in "Europa-Amt" umbenannt, statt "germanischen" Märchen- und Geschichtsbüchern plante man im letzten Kriegsjahr die Herausgabe eines "Europäischen Geschichtswerks" und "europäische Forschungsprojekte".
Militärische Umstände verändern Rhetorik
Dazu waren die Nazis laut Gasche durch die ab 1942 veränderten politischen und militärischen Gegebenheiten gezwungen. Mit rein "germanischen" Argumenten konnten die Reihen der immer stärkeren Verlusten ausgesetzten Hitler-Truppen nicht mehr aufgefüllt werden.

Waffen-SS und Wehrmacht entwickelten sich im Verlauf des Krieges immer mehr zu einer "Armee europäischen Charakters", in der es unter anderem bosniakische, albanische, slowakische oder armenische Einheiten gab.
Germanophiler Philosophie-Professor
Der in seinem Heimatland als Meinungsbildner fungierende, zum Wiener Positivisten-Kreis gehörende, finnische Philosophie-Professor Eino Kaila, schrieb im September 1941 - also kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion unter Beteiligung Finnlands - in der bei der Deutschen Verlagsanstalt erscheinenden "Europäischen Revue" einen Artikel über die "Europäische Friedensordnung".

Darin vermeinte er in Großdeutschland die "notwendige zentrale Gewalt" für eine "europäische Neuordnung im Sinne eines übervölkischen nationalen Zusammenschlusses" zu erkennen.

Gasche fand zusätzlich heraus, dass Kaila in seinen anderssprachigen Publikationen durchaus gemäßigteres und weniger "völkisches" Vokabular verwendete. Dort hieß es dann etwa "Zivilisation" statt "Ordnung" oder "Westeuropa" statt "Abendland".
Propaganda für den Führungsanspruch
Die Fiktion "Europa" war aber auch davor schon ein wichtiger Bestandteil der Ideologie des Dritten Reiches. Die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit wurden auf Grund ihrer vermeintlich staatsbildenden Fähigkeiten als die Wegbereiter der modernen europäischen Nationalstaaten angesehen.

Im Krieg betonten die Nazi-Ideologen dann die angebliche geschichtliche Bedeutung der Germanen als "Verteidiger des Abendlandes" - Feind war in erster Linie der aus dem Osten kommende "Barbar".

Gasche zufolge ging es den Strategen der SS noch in den letzten Kriegsmonaten stets darum, den Führungsanspruch der Germanen auf dem Kontinent - vor allem im Hinblick auf ein künftiges Europa - zu propagieren.
Ideologische Blüten
Die Übernahme der Germanen-Ideologie trieb im Laufe der Zeit in mehreren Teilen Europas seltsame Blüten; etwa als sich der wallonisch-belgische Rexisten-Führer Léon Degrelle 1943 als Germane outete. Die Ustascha machte die Kroaten zu Nachfahren der Goten.

Der finnische Autor und Abenteurer Yrjö von Grönhagen wiederum war ein Verfechter der These, dass Finnen und Deutsche völkisch verwandt seien. Diese Theorie vertrat auch Heinrich Himmler, der mit von Grönhagen befreundet war und sich angeblich von diesem in den Genuss der finnischen Sauna einweihen ließ.

[science.ORF.at/APA, 15.12.06]
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01.01.2010