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Arbeitsmigration "neuer" EU-Bürger: Überschätzt?  
  Die breite Öffentlichkeit fürchtet einen Zustrom von billigeren Arbeitskräften aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten, sobald der Arbeitsmarkt für ihre Bürger geöffnet wird. Dafür gibt es aktuell noch keinen Grund, besagt eine Studie. Nur wenige Arbeitnehmer der drei Nachbarländer Tschechien, Slowakei und Ungarn zeigen zumindest derzeit ein "aktives" Potential für einen Jobwechsel nach Österreich.  
Die Sozialwissenschaftler Marc Bittner und Michaela Hudler-Seitzberger untersuchten das Migrationspotenzial von Arbeitnehmern entlang der österreichischen Grenze zu den neuen EU-Ländern. Demnach wollen nur 1,2 Prozent der slowakischen Befragten, 0,7 Prozent der ungarischen und 0,4 der tschechischen ihren Wunsch, den Job nach Österreich zu verlegen, in den nächsten zwei Jahren umsetzen. Sie verfügen zudem über Deutschkenntnisse und haben bereits erste konkrete Vorbereitungen getroffen.

Von allen Befragten konnten sich hingegen jeweils zwölf Prozent in der Slowakei und in Ungarn sowie fünf Prozent in Tschechien prinzipiell vorstellen, einmal in Österreich zu arbeiten. Die Gruppe mit "unbestimmtem" Migrationswunsch, also das passive Arbeitsmigrationspotenzial, ist damit deutlich größer, berichten die Wiener Forscher.
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Der Artikel "Arbeitsmarktmonitoring - Struktur, Motive, Erwartungen und Wünsche des Arbeitsmigrationspotenzials in den Grenzregionen der Slowakei, Tschechiens und Ungarns mit Österreich" ist in der Fachzeitschrift "SWS Rundschau" der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft (Heft 4/2006, S. 432) erschienen.
->   Abstract
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Diesseits und jenseits: Jobwechsel-Pläne
"Kaum jemand wird bei Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts an der Grenze stehen, um in Österreich zu arbeiten, sofern er/sie hier nicht einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht oder bereits zugesagt hat", fassen die Autoren die Ergebnisse der ersten Erhebung im Rahmen des Projekts LAMO (Labourmarket Monitoring) zusammen.

Die Befragung von Haushalten fand dabei im Jahr 2004/05 in Gemeinden und Regionen statt, die durch ihre geografische Nähe ein Potenzial für Migration oder Pendelverkehr der Arbeitnehmer erwarten lassen.

Der Untersuchungsraum umfasste den Osten Österreichs (Wien, Burgenland und Grenzregionen Niederösterreichs) sowie die Grenzregionen Tschechiens, der Slowakei und Ungarns - insgesamt rund 10.150 befragte Personen.
Österreich: Zielland Nummer eins
Für jeweils zwölf Prozent aller Befragten in der Slowakei und Ungarns sowie fünf Prozent in Tschechien steht Österreich an erster Stelle der gewünschten Zielländer.

Allgemeines Interesse, in einem ausländischen Land zu arbeiten, zeigten immerhin rund ein Drittel der Slowaken, 16 Prozent der Tschechen und 19 Prozent der Ungarn.

Das Interesse der Österreicher, ihren Arbeitsplatz in eine der Grenzregionen der neuen EU-Länder zu verlegen, ist hingegen mehr oder weniger gleich Null: Nur ein Prozent der Befragten sagten aus, dass sie sich eine Arbeitsmigration in die Nachbarländer Slowakei, Tschechien und Ungarn vorstellen können.
Migrationswillige: Eher qualifizierte Arbeitnehmer
Die vollständige Liberalisierung des Arbeitsmarktes ist in Österreich wie auch in den anderen "alten" EU-Mitgliedstaaten bis spätestens 2011 umzusetzen. Dann greift die uneingeschränkte "Arbeitnehmerfreizügigkeit" - sie ermöglicht Personen die freie Wahl ihres Arbeitsplatzes im gesamten Gemeinschaftsgebiet.

Die Ergebnisse der Sozialwissenschaftler lassen erkennen, "dass Befürchtungen eher ungerechtfertigt sind, vor allem unqualifizierte Arbeitskräfte mit einem niedrigen Bildungsniveau würden auf den österreichischen Arbeitsmarkt strömen".

Männlich, jüngeren Alters, hohes Bildungsniveau und eher ungebunden - so schaut das durchschnittliche Profil des Migrationswilligen in den drei Nachbarländern aus.
Häufig im Beschäftigungsverhältnis
Ein großer Teil der Migrationswilligen in Tschechien, der Slowakei und Ungarn geht einer Beschäftigung nach (jeweils rund 60 Prozent). Der Anteil der Arbeitslosen unter den potenziellen Arbeitsmigranten ist hingegen eher gering (zwischen neun und zehn Prozent).

Das Auswandern von Facharbeitern, die größte Berufsgruppe unter den Migrationswilligen in den Nachbarländern, in andere Länder ("Brain Drain") und eine damit einhergehende Schwächung des Wirtschaftsstandorts könnten in Zukunft verstärkt zum Problem der Grenzregionen werden.
Motivation: Höheres Einkommen
Das höhere Einkommen geben die Befragten als den wichtigsten Grund für eine Arbeitsmigration an (z.B. 99 Prozent in Tschechien). Aber sie wird dann erst interessant, wenn das Einkommen mindestens doppelt so hoch ist wie in der Heimat. Andere Motive: ein besserer Lebensstandard, gute Beschäftigungsaussichten und bessere Arbeitsbedingungen.

So kommt ein Jobwechsel der Studie zufolge für die Mehrheit nur in Frage, wenn dieser mit einer besseren Bezahlung verbunden ist und das Angebot einer der Qualifikation entsprechenden Stelle vorliegt.
Schlüsselfaktor: Österreichische Unternehmen
Zum entscheidenden Faktor werden damit die österreichischen Unternehmen als potenzielle Arbeitgeber und auf der Suche nach qualifiziertem Personal. Diese hätten bei einer Befragung bestätigt, dass es beim Wegfallen der Übergangsfristen zu einer verstärkten Anwerberoffensive im benachbarten Ausland kommen würde.

Eine aktive Anwerbepolitik kann laut der Sozialwissenschaftler besonders für die Aktivierung der prinzipiell Migrationswilligen mit "unbestimmtem" Jobwechselwunsch ins Gewicht fallen.

Es gelte daher, die Übergangsfristen "bestmöglich zu nutzen", so die Autoren - sowohl im Interesse der österreichischen Unternehmen als auch der österreichischen Arbeitnehmer.

Derzeit läuft eine zweite Erhebung des Arbeitsmigrationspotenzials. Über ein regelmäßiges Monitoring soll eine Grundlage für politische und wirtschaftliche Entscheidungen im Zusammenhang mit der Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts geschaffen werden.

[science.ORF.at, 18.12.06]
->   Paul Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung
->   LAMO - Labourmarket Monitoring
->   Arbeitsmigration - Wikipedia
->   Arbeitsmigration - Demokratiezentrum Wien
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01.01.2010