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Gehirn-Scans: Nähe zu Katastrophen bestimmt Erinnerung  
  An den Einsturz des World Trade Center am 11. September 2001 können sich wohl viele Menschen noch erinnern. Besonders lebhaft sind die Erinnerungen bei denjenigen, die sich während der Anschläge im näheren Umkreis aufhielten. Die physische Nähe zum "schockierenden" Ereignis spielt dabei - wenig überraschend - eine zentrale Rolle. Sie sorgt allerdings auch dafür, dass später nicht der "normale" Erinnerungsmechanismus greift, sondern ein spezieller.  
Eine neurowissenschaftliche Untersuchung von US-Psychologen ergab: Bei den Personen, die sich während der Anschläge in der Nähe der World Trade Center aufhielten, zeigte sich während der rückblickenden Beschreibung der Katastrophe eine erhöhte Aktivität in der Amygdala. Diese blieb bei den Personen aus, die am Unglückstag vom Ort des Geschehens mehrere Kilometer und weiter entfernt waren.

Neurobiologisch besteht bereits seit einigen Jahrzehnten die Annahme, dass die besonders lebhaften und detaillierten Erinnerungen an "Weltereignisse", so genannte Blitzlichterinnerungen, über einen anderen Mechanismus verankert werden. Das könnte nun mit der vorliegenden Studie bestätigt worden sein.
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Der Artikel "How personal experience modulates the neural circuitry of memories of September 11" von Elizabeth A. Phelps et al. ist als Online-Publikation der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (18.-22. Dezember 2006, DOI: 10.1073/pnas.0609230103) erschienen.
->   Abstract (sobald online)
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Aufzeichnung der Erinnerung
Das Team um Elizabeth A. Phelps vom Department of Psychology der New York University bat 24 Personen, die sich am 11. September 2001 in New York aufgehalten hatten, ihre Erinnerungen an den Tag und das Erlebte wiederzugeben - die Terroranschläge lagen zu dem Zeitpunkt drei Jahre zurück.

Als "Kontrollereignis" sollten die Teilnehmer auch über ein autobiographisches Erlebnis aus dem Sommer des gleichen Jahres berichten.

Während die Personen ihre Erinnerung schilderten, wurde ihre Gehirnaktivität über funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) aufgezeichnet.
Je näher, desto lebhafter
Die Personen, die sich während der Anschläge "downtown" - und damit in der Nähe des World Trade Center - aufhielten, vermittelten die Erinnerungen viel lebhafter, detaillierter und mit mehr Vertrauen. Es gab zudem mehr Hinweise auf eigene Erfahrungen mit den Terroranschlägen, vernommene Geräusche und Gerüche.

Personen, die sich hingegen in Midtown und damit einige Kilometer entfernt aufhielten, beschrieben die Ergebnisse eher über Informationen, die sie damals aus dem Fernsehen und dem Internet erhalten hatten.
Selektive Hirnaktivierung
Die Aktivität der Amygdala war während des Erzählens bei den Personen am ausgeprägtsten, die sich während der Ereignisse am Tag selbst in Downtown aufgehalten hatten - mit der Entfernung des Aufenthaltsorts der Personen nahm die Aktivität ab. Die Amygdala ist dabei Teil des limbischen Systems und bei der Zuweisung von Emotionen zu Erlebtem von großer Bedeutung.

Als Folge der persönlichen Erfahrungen der Katastrophe "wurden neuronale Mechanismen, die der emotionalen Modulation von Erinnerungen unterliegen, selektiv aktiv, als die Personen sich erinnerten", so Studienautorin Phelps.

Die Erzählungen über erlebte Sommerereignisse (Kontrollereignisse) zeichneten sich hingegen nicht durch eine vergleichbare Lebendigkeit und eine erhöhte Aktivität der Amygdala aus.
->   Amygdala - Wikipedia
"Flashbulb memories"
Die Ergebnisse könnten auch für ein psychologisches Konzept bedeutend sein, dass unter Fachleuten sehr kontrovers diskutiert wird, schreiben die Wissenschaftler. Das Phänomen der "flashbulb memories", Blitzlichterinnerungen, wurde bereits durch Roger Brown und James Kulik in den 1970er Jahren aufgebracht.

Besonders schockierende, einprägende oder konsequenzenreiche "Weltereignisse", so etwa die großen Mordanschläge auf Politiker wie John F. Kennedy (1963), prägen sich demnach in besonderer Form in die Köpfe ein - sie erzeugen Erinnerungen an die Umstände, unter denen das überraschende oder schockierende Ereignis wahrgenommen wurde. Diese können noch lange Zeit später abgerufen werden.
Vermutung: Anderer Mechanismus greift
Brown und Kulik gingen davon aus, dass bei der Erinnerung an solche einschneidenden Ereignisse nicht der "normale" Erinnerungsmechanismus greift, sondern ein spezieller Mechanismus, der in solchen Momenten Blitzlichterinnerungen erzeugt.

Die Kennzeichen der Blitzlichterinnerungen: besonders lebhaft, besonders detailreich, mit besonders viel Vertrauen in Wirklichkeitstreue vorgetragen.

Dass Blitzlichterinnerungen auch wirklich akkurater sind als andere Formen der Erinnerungen - wie ebenfalls angenommen -, zogen nachfolgende Studien aber in Zweifel.
Zusammenhang mit Amygdala-Aktivität
"Unsere Ergebnisse zu den 9/11-Erinnerungen weisen darauf hin, dass die persönliche Beteiligung von großer Bedeutung ist, um Erinnerungen zu produzieren, die die Eigenschaften der Blitzlichterinnerungen tragen", so Ko-Autor Sharot.

Der Grund dafür liege vermutlich in der höheren Aktivität der Amygdala, sobald die Ereignisse "erster Hand" erfahren werden.

[science.ORF.at, 19.12.06]
->   The Phelps Lab - NYU Psychology
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01.01.2010