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Glückssuche zwischen Individuum und Gesellschaft  
  Hegel hielt die Geschichte des Menschen für "keinen Boden des Glücks". Freud assistierte ein Jahrhundert später und meinte, dass Glück im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen sei. Dennoch und vielleicht gerade deswegen streben die Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten nach irgendeiner Form des Glücks - in den USA hat dieser "pursuit of happiness" sogar Eingang in die Unabhängigkeitserklärung gefunden.  
"Alle Menschen sind gleich geschaffen, sie sind von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten versehen worden, darunter Leben, Freiheit und die Verfolgung von Glück", wurde da am 4. Juli 1776 verlautbart, am Gründungstag einer Nation, die den Glücksbegriff bis heute entscheidend prägt.

Dass sich dieser Begriff einzig auf das Glück von Individuen bezieht, wird von jenen kritisiert, die auch in gesellschaftlichen Kategorien denken.

Die boomende Glücksforschung ist damit hingegen sehr zufrieden - und versucht per Umfragen und Messung körperlicher Eigenschaften den "Schlüssel zum Glück" herauszufinden.
->   US-Unabhängigkeitserklärung
Messbarmachung von Glück
Über Glück und die Möglichkeiten es zu erreichen, haben schon die alten Griechen spekuliert. Und waren sich selten darüber einig. Auch die zeitgenössischen Wissenschaften geben die unterschiedlichsten Antworten.

Neben der nicht unwesentlichen Frage, was das überhaupt ist, das Glück, liegt eine der Schwierigkeiten in seiner Messung - was für die Wissenschaftlichkeit frei nach Galileis Diktum von der "Messbarmachung des Nichtmessbaren" nicht unwesentlich ist.

Einen Weg Glück zu messen verfolgt Daniel Kahneman, Psychologe an der Universität Princeton und Nobelpreisträger für Ökonomie 2002. Mit Hilfe einer Methode zur Rekonstruktion von Tagesabläufen ("Day Reconstruction Method") untersuchte er die alltäglichen Glücksgefühle amerikanischer und französischer Frauen.
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Die Studie "A Survey Method for Characterizing Daily Life Experience: The Day Reconstruction Method" ist in "Science" (Bd. 306, S. 1776, Ausgabe vom 4.12.04) erschienen.
->   Abstract in Science
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Besser reich als arm
Die Ergebnisse waren wenig überraschend: Verbrachte Zeit mit Freunden oder Familie wurde als befriedigend empfunden, Arbeit und Staus auf dem Weg zur Arbeit etwa als unglücklich.

Insgesamt zeigte sich kein starker Zusammenhang zwischen allgemeiner Lebenszufriedenheit und aktuell erfahrenen Erlebnissen. So sind reichere und verheiratete Frauen zwar eher glücklich als ärmere und Singles, von Tag zu Tag zeigten sich aber keine Unterschiede.

Kahnemans Studie bestätigte frühere Resultate mit anderen Zielgruppen - Männer, unterschiedliche sozioökonomische Niveaus etc. - wonach es ein individuell "fixes Glücksniveau" gebe. Dieses ist von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig und steigt mit dem Einkommen - aber nur bis zu einer gewissen Höhe, ab dem es wiederum stagniert.
Individuell fixes Glücksniveau
Als ein Klassiker der empirischen Glücksforschung gilt eine Studie aus dem Jahr 1978: Psychologen verglichen damals das subjektive Empfinden von Menschen ein Jahr, nachdem sie von besonders einschneidenden - und höchst unterschiedlichen - Ereignissen betroffen waren.

Auf der einen Seite handelte es sich um Menschen nach einem beträchtlichen Gewinn in der Lotterie, auf der anderen Seite um Opfer von Unfällen, die seither gelähmt waren.

Bei beiden zeigte sich, dass sich ihr Glücksempfinden ein Jahr nach dem Ereignis wieder dem ursprünglichen Wert angenähert hat.
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Die Studie "Lottery winners and accident victims: is happiness relative?" von Brickman P; Coates D; Janoff-Bulman ist im "Journal of personality and social psychology" erschienen.
->   Abstract der Studie
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Kritik an individuellem Glücksbegriff
Noch handfestere Resultate wollen Forscher erzielen, die verschiedene Körperparameter untersuchen - wie Hormonhaushalt (Cortisol, Epinephrin), Blutdruck oder Gehirnaktivität - und diese mit dem subjektiven Grad des Glücks vergleichen.

Allen diesen Forschungen ist eines gemein: Sie untersuchen das individuelle Glück - und das ist genau, worin das wahre Unglück unserer Gesellschaft liegt, meint die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus von der Universität Frankfurt.

"Gleichgültig ob bei der Arbeit, beim Sport oder beim Sex - der Lustgewinn liegt immer nur in einem selbst, niemals außer sich", meinte Greverus unter Hinweis auf den Glücksforscher Csikzentmihalyi und sein vielgelesenes Buch "Flow. Das Geheimnis des Glücks" gegenüber science.ORF.at.
->   Das Buch im Klett-Cotta-Verlag
Verlust von Sicherheiten und sozialer Identität
Die Ursache für dieses "autotelische Glücksstreben" sieht Greverus in einem "immer stärkeren Verlust emotionaler und sozialer Sicherheiten, im Verlust von Vertrauen. Auf der einen Seite kann man das an den hohen Scheidungszahlen sehen, auf der anderen Seite an der ständig wachsenden Forderung der Wirtschaft zu mehr Flexibilität."

Mit diesem Vertrauensverlust einher geht laut Greverus ein Identitätsverlust vieler Menschen: "Sich selbst erkennen und von anderen anerkannt sein, geht nur gemeinsam. Ohne gesellschaftliche Anerkennung und Aufgabe gibt es auch keine Identität."

Für Glück brauche es folgerichtig "das Mitgestalten an einem sozialen Leben und gesellschaftliche Aufgaben".
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Immer weniger Kreativität
In ihrem eigenen Wirkungsbereich, an den Hochschulen, sieht Greverus derzeit ähnliche Tendenzen. Während in den 1970er Jahren das Konzept des "forschenden Lernens" entwickelt wurde, bei dem die Studierenden gemeinsam mit ihren Lehrern geforscht und gearbeitet haben, gehe es heute "nur mehr um die PISA-Tests und die Frage, wie viele Credit-Points in welcher Lehrveranstaltung zu vergeben sind. Was fehlt ist die Kreativität, die Lust aus sich selbst etwas zu entwickeln".
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Mehr direkte Demokratie in allen Lebensbereichen
Für ein Mehr an sozialer Mitgestaltung soll man eine "Politik der kleinen Schritte" nicht unterschätzen, meint Greverus. Bürger- und Nachbarschaftsaktivitäten etwa, die sich in Gegenseitigkeit und grenzüberschreitend umeinander kümmern, seien ein kleines Beispiel für mehr soziale Verantwortung.

Prinzipiell läge es aber an mehr direkter Demokratie, an der Möglichkeit aktiv die eigene Umgebung - sei es die Wohnumwelt oder den Arbeits- und Ausbildungsplatz - mitzugestalten.

Auch hier sieht Greverus allerdings derzeit wenig Anlass zur Freude: Mitbestimmungsrechte für Studierende seien dank der Reformen der letzten Zeit z.B. deutlich beschnitten worden.
Unglücksforschung könnte glücklicher machen
Für wichtiger als die derzeit boomende Glücksforschung hält Ina-Maria Greverus eine "Unglücksforschung", die es bis dato nur in Ansätzen gibt. Lobend erwähnt sie dabei das jüngste Buch des polnischen Philosophen Zygmunt Bauman. "Verworfenes Leben" beschreibt die "Ausgegrenzten der Moderne" - Menschen, die buchstäblich als gesellschaftlicher Müll behandelt werden, nach denen keine "Nachfrage" mehr besteht.

Und auch die Geschichten des alltäglichen Leids, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu ("Das Elend der Welt") oder die österreichische Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch ("Das ganz alltägliche Elend") beschrieben haben, legt Greverus einer ganz bestimmten Menschengruppe ans Herz.

"Wenn die drei Bücher von Politikern jetzt zu Weihnachten gelesen werden würden, könnte das schon eine Menge bewirken."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 30.12.06
->   Buch "Verworfenes Leben" (Zygmunt Bauman, HIS-Verlag)
->   Buch "Das ganz alltägliche Elend" (Elisabeth Katschnig-Fasch, science.ORF.at)
->   Buch "Das Elend der Welt" (Pierre Bourdieu; Wikipedia)
->   Ina-Maria Greverus, Uni Frankfurt
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Österreicher blicken pessimistisch in die Zukunft (15.9.06)
->   "Weltkarte des Glücks": Österreich an dritter Stelle (28.7.06)
->   Alter und Glücksgefühl - eine unterschätzte Liaison (19.6.06)
->   Kann man Lebensglück messen? (27.8.03)
 
 
 
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01.01.2010