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Neuro-Beweise für "weibliche Geschwätzigkeit"?  
  Dass Frauen "geschwätzig" sind, ist ein gängiges Klischee. Die Neurobiologin und selbst ernannte Feministin Louann Brizendine behauptet, wissenschaftliche Erklärungen für dieses und ähnliche Stereotypen gefunden zu haben. "The Female Brain" heißt ihr Buch, das dieses Jahr in den Vereinigten Staaten erschienen ist. Dort wurde es bereits zum Bestseller und führte zu diversen medialen Kontroversen.  
Brizendine hat zahlreiche Studien zusammen getragen, die eine Gehirndifferenz der Geschlechter untermauern sollen.

Ihre Hauptthese: Hormone prägen das weibliche Gehirn grundlegend und bestimmen so die weibliche Wirklichkeit. Sie habe das Buch - trotz politischer Unkorrektheit - vor allem für Frauen geschrieben, um sie auf ihre speziellen Fähigkeiten hinzuweisen, so Brizendine.
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Louann Brizendine: The Female Brain. Morgan Road Books, 279 S. 22,30 Euro
->   Mehr über das Buch
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Wechselnde Vorstellungen von Geschlechtsunterschieden

Als man vor über 100 Jahren entdeckte, dass die Gehirne von Frauen um neun Prozent kleiner sind, schien die wissenschaftliche Welt endlich eine Erklärung dafür gefunden zu haben, warum Frauen einfach "kleinere Männer" oder weniger intelligent seien.

Später, in den 1970er tendierten Neurologen und Psychologen dazu, weibliches und männliches Gehirn als weitgehend identisch und beliebig formbar zu sehen. In der damaligen Lehrmeinung entstehen Unterschiede vor allem durch kulturelle Prägung und Erziehung.

Feministinnen und Genderforschung bemühen sich seither, Geschlechterstereotypen aufzuweichen und die Rolle der Geschlechter - auch die der Männer - neu zu überdenken.
Neurologie lieferte neue Bio-Argumente
Aber seit den 1990er mischen sich erneut biologische Argumente in die Geschlechterdebatte. Nicht zuletzt die Neurologie und ihre verbesserten Mess- und Untersuchungsmethoden sind dafür verantwortlich.

Der ständig wachsende Wissenschaftszweig versucht, wenn möglich, das gesamte menschliche Verhalten mittels Gehirn-Scans lesbar zu machen.

Dabei wagt sie sich immer weiter in den Bereich höherer Gehirnfunktionen vor und drängt damit die Psychologie mit ihren modellhaften Ansätzen zunehmend in den Hintergrund, wie nicht zuletzt die Diskussion über den freien Willen zeigte.
->   Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln (22.11.04)
Gehirnbilder als Beweise
Auch die Neurobiologin Brizendine nennt die neuen Bild gebenden Verfahren, wie etwa die Magnetresonanzuntersuchungen, als wesentliche Quelle der neuen Einsichten in die Geschlechterdifferenzen.

Die Beweise, wie einschneidend Hormone wirken und so Unterschiede erzeugen, liegen sozusagen auf der Hand. Schließlich seien Messungen nicht durch Ideologie zu entkräften.
Frauenhirn als "Kommunikationsmaschine"
Laut Brizendine ermöglichen die neuen Methoden Einblicke in das menschliche Wesen. So haben Frauen - deutlich sichtbar - um etwa elf Prozent mehr Neuronen in jenen Gehirnregionen, die für Sprache und Hören zuständig sind.

Glaubt man der Autorin, markiert die Kommunikationsfähigkeit auch den wesentlichsten Unterschied zwischen den Geschlechtern. Das weibliche Gehirn sei eine echte "Kommunikationsmaschine".
Neuro-Hormone mit klingenden Beinamen
Das Buch beginnt mit der Aufzählung der wichtigsten Neuro-Hormone, alle versehen mit klingenden Beinamen: Östrogen wird dabei zur "Königin", Testosteron zum "gewalttätigen Verführer" und Oxytocin zum "kuscheligen, schnurrenden Kätzchen".

Sie alle bestimmen, was das Gehirn tut und steuern laut Brizendine so das gesamte Sozialverhalten des Individuums.
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Zusammenspiel von Gehirn und Hormonen
Mit den Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Hormonen beschäftigt sich der relativ junge Zweig der Neuroendokrinologie. Demnach regulieren neuroendokrine Systeme sämtliche körperlichen Vorgänge: vom Stoffwechsel, über Blutdruck und Gesundheit bis zur Gemütslage. Die differenzierende Wirkung von Geschlechtshormonen hat in der Folge auch in der Medizin zu einer geschlechtsspezifischen Krankheitsforschung geführt, welche jahrelang vernachlässigt wurde.
->   Neuroendocrinology (Wikipedia)
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"Frauen haben mehr Gefühl"
Nicht zuletzt aufgrund der übertrieben bildhaften Sprache reiht sich Brizendines Buch allerdings nahtlos in die Reihe der boomenden populärwissenschaftlichen Werke vom Typus "Männer sind vom Mars" und "Frauen von der Venus" ein.

Die von der Autorin postulierten Differenzen beziehen sich vorwiegend auf Emotionen und Verhalten und weniger auf Intelligenzleistungen. So hätten Frauen eine "achtspurige Gefühlsautobahn", wo Männer lediglich eine "Landstraße" hätten.

Dass sie damit indirekt erneut Klischees und das gesellschaftliche Ungleichgewicht untermauert, übersieht Brizendine.
Hormone machen Frauen zu Frauen
So widerspricht sie zwar einerseits dem ehemaligen Harvard-Präsident Lawrence Summers, der 2005 mit dem Ausspruch, Frauen besäßen kein Talent für Naturwissenschaften und seien deshalb kaum in diesem akademischen Umfeld vertreten, Aufsehen erregte.

Frauen haben laut Brizendine dieselben Grundvoraussetzungen, was die Intelligenz betrifft. Die Hormone allerdings führen zu einem geringeren Interesse an derlei analytischen Fächer, da die soziale Dimension zu kurz kommt.
Wissenschaftliche Ungenauigkeit
Ihre Kritiker werfen ihr jedoch nicht nur die plakative Darstellung vor, sondern sprechen von Verzerrung der Wahrheit und wissenschaftlichen Falschaussagen.

So hat etwa Mark Liberman, Professor für Phonetik und Informatik an der University of Pennsylvania, einige der Kernaussagen Brizendines zu den unterschiedlichen Sprachfähigkeiten genauer untersucht.

Die Aussage, dass Frauen dreimal soviel reden wie Männer - nämlich 20.000 statt 7.000 Wörter - lasse sich in keiner der von der Autorin im 58 Seiten langen Anhang referenzierten Studien finden.
Geschwätzigkeit "urbane Legende"?
In seinem "Language Log" führt er genauer aus, dass linguistische Untersuchungen eher das Gegenteil gezeigt hätten und dass - sofern überhaupt ein Unterschied messbar ist - Männer etwas mehr reden.

Die "Geschwätzigkeit" der Frauen verweist Liberman in den Bereich der urbanen Legenden. Ähnliche Widersprüche stellt er bei der höheren Sprachgeschwindigkeit fest.
Frage nach den Wirkungszusammenhängen
Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die verzerrte Darstellung: Die Autorin betone kleine Unterschiede, die in Wirklichkeit oft nicht mehr als statistische Abweichungen sind. Häufig sei die Varianz innerhalb der Geschlechter weitaus signifikanter.

So hat etwa Janet Hyde, Psychologin an der University of Wisconsin, 46 Meta-Analysen über Geschlechterdifferenzen der letzten Jahre unter die Lupe genommen, die so unterschiedliche Dinge wie mathematische Begabung oder Glück untersuchten. Dabei zeigte sich, dass es in den meisten Bereichen keine oder nur sehr kleine Unterschiede gebe.

Ein anderer Punkt, der in Brizendines Ausführungen offen bleibt ist, ist die Frage nach den Wirkungszusammenhängen. Das heißt die Frage danach, ob Hormone bestimmtes Verhalten zwangsläufig bestimmen oder ob bestimmtes Verhalten erst zur Hormonausschüttung führt.
Es gibt ein Entkommen
Louann Brizendine selbst betreibt keine Forschung, sondern leitet seit 1994 eine Hormonklinik in San Francisco. So werden auch im Buch viele ihrer Thesen, etwa zu geschlechtspezifischen Kinderspielen, mit Fallgeschichten illustriert, deren Allgemeingültigkeit bezweifelt werden kann.

Das einzige, was man der Autorin zu Gute halten kann ist, dass sie ein Zusammenwirken von Natur, sozialem und kulturellen Umfeld einräumt.

Nicht alles sei vorgezeichnet und uns unausweichlich in die Wiege gelegt. Mann und Frau könnten ihrer Natur zu einem gewissem Grad entkommen, sofern sie das wollen.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 22.12.06
->   Mark Liberman, University of Pennsylvania
->   Language Log
->   Janet Hyde, University of Wisconsin
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Queer Studies lesen Sexualität "quer" (1.11.06)
->   "Frauen und Wissenschaft": Eine Transgender-Kritik (17.7.06)
->   Von wegen Mars und Venus: Frauen und Männer denken ähnlich (19.9.05)
 
 
 
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01.01.2010