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Resümee des Freud-Jahrs 2006  
  Das Sigmund-Freud-Jahr 2006 neigt sich zu Ende. Zu seinem 150. Geburtstag bewerteten zahlreiche Experten den Begründer der Psychoanalyse in Gastbeiträgen von science.ORF.at. Ein Rückblick über Würdigungen und Kritik.  
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hinterfragte prinzipiell die Praxis der Gedenkjahre, die heuer dank Mozart, Heine, Brecht und Rembrandt besonders Konjunktur hatten - und zwar mit einem Rückgriff auf ein Konzept Freuds.
Gedenktage: Versicherung, dass sie wirklich tot sind
Dieser hatte den menschlichen Trieben - in seiner späten Version, den Lebens- und den Todestrieb - einen konservativen Charakter zugeschrieben, der uns zu Wiederholungen aller Art zwingt. Auch zu Gedenktagen.

"Jedes Ritual erinnert nicht nur an einen Beginn, sondern immer auch an das, was davor war. Sigmund Freud zu gedenken, bedeutet auch, jenen Zustand zu imaginieren, der herrschte, als Freud noch nicht war.

Gedenktage sind deshalb so wichtig, weil sie uns auch versichern, dass die Toten tatsächlich tot sind. Im Falle von Sigmund Freud, der mehr als nur eine unbehagliche Wahrheit für die Menschen bereit hielt, ist dies womöglich sogar eine frohe Botschaft," schrieb Liessmann.
->   K.P. Liessmann: Unbehagen über Kultur der Gedenktage (15.6.)
Gesellschaftskritik nach wie vor aktuell
Dass diese unbehaglichen Wahrheiten heutzutage gerne ausgeblendet werden, schrieb der Erziehungswissenschaftler Josef-Christian Aigner. Während ihre therapeutischen Wirkungen zumindest teilweise anerkannt würden, werde auf die Gesellschafts- und Kulturkritik der Psychoanalyse oft vergessen.

Aktuelle Betätigungsgebiete dafür gibt es genug. Als langjähriger Kenner des Nahost-Konflikts beschrieb der Psychoanalytiker Vamik Volkan den Zusammenhang von bedrohten Identitäten und sozialer Regression - und meinte, dass die Psychoanalyse in Zeiten der Gewalt auch weiter eine Stimme der Vernunft sein kann.

Für den von den Nazis vertriebene Psychoanalytiker John S. Kafka haben Psychoanalyse und Demokratie eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Bei beiden handle es sich um offene Systeme. Beide würden die Möglichkeit bieten, ein und dieselbe Situation neu verstehen zu können und einen anderen Umgang mit ihr zu finden, führte Kafka aus.
->   Josef Christian Aigner: Die vergessene Kulturkritik der Psychoanalyse (31.3.)
->   Vamik Volkan: Psychoanalyse - Vernunft in Zeiten der Gewalt (12.5.)
->   John S. Kafka: Psychoanalyse und Demokratie wesensverwandt (7.4.)
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Eine Frage der Identität
Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch reflektierte über die jüdische Identität von Sigmund Freud und über die Entwicklung dieser Identität seit damals angesichts geänderter "kompakter Mehrheiten" und Minderheiten.
->   H. Rosenstrauch: Freud war darauf vorbereitet, in Opposition zu gehen (28.4.)
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Diskussion um "Wissenschaftlichkeit"
Bei vielen Gastbeiträgen stand die "Wissenschaftlichkeit" der Psychoanalyse im Mittelpunkt der Überlegungen, die seit ihrem Anbeginn umstritten war. Ursache dafür ist nach Ansicht von Christine Diercks, der Vorsitzenden der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, ihre ganz besondere Praxis: "Psychoanalyse existiert nur, wo sie praktiziert wird - im Dialog zwischen Analytiker und Analysanden, der darauf ausgerichtet ist, das Unbewusste zu verstehen und in einer konstruktiven Leistung zugänglich zu machen", schrieb Diercks.

Auch der Soziologe und Publizist Helmut Dahmer hob das besondere Wissenschaftsverständnis der Psychoanalyse hervor, die es mit zweideutigen Objekten zu tun habe - nämlich mit Subjekten. Daraus sei eine "unnatürliche" Wissenschaft geworden, die dennoch keine Geisteswissenschaft sei.

Für den Gesundheitspsychologen Gerald Poscheschnik wiederum zielt der Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" zunehmend ins Leere. Nicht nur psychoanalytische Grundannahmen, sondern auch ihre therapeutische Wirkungen seien mittlerweile gründlich empirisch untersucht worden - "ein Zeichen des Erwachsenwerdens".
->   Christine Diercks: Die Bedeutung der Psychoanalyse heute (18.1.06)
->   Helmut Dahmer: Psychoanalyse als "unnatürliche" Wissenschaft (23.11.06)
->   Gerald Poscheschnik: Empirische Überprüfung der Psychoanalyse (19.5.06)
Kritik an Sektierertum und Relevanz
Der Sozialanthropologe Andre Gingrich hingegen sieht die Psychoanalyse weiter "tief ambivalent". Er kritisierte einerseits die "eigenartige Aufspaltung der psychoanalytischen Arbeitsrichtungen in zahllose Grüppchen und Strömungen", die ihn an "Sekten und Geheimbünde im Islam, an linksradikale Splittergruppen oder an protestantische Eiferer in den USA" erinnern.

Andererseits beklagte er, dass die Psychoanalyse seinem "eigenen Fach, der Kultur- und Sozialanthropologie, in theoretischer und systematischer Hinsicht immer nur sehr beschränkte Impulse verleihen konnte".

Wie Gingrich beschrieb auch der Sozialwissenschaftler Franz Seifert seinen Zugang zum Denken Freuds sehr persönlich. Unter Bezugnahme auf ein Buch von Alain Ehrenberg ("Das erschöpfte Selbst") sah er den Einfluss der Psychoanalyse als Behandlungsmethode und Erklärungsmodell dramatisch schwinden - "dank der pharmakologischen Revolution und standardisierten Diagnoseverfahren".
->   Andre Gingrich: Freud - Zwischen Respekt und Skepsis (9.1.06)
->   Franz Seifert: Psychoanalyse - Persönliche Fußnote und Buchtipp (20.2.06)
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Freud als Popstar
Auch der "Popstar Freud" wurde heuer gewürdigt. Der deutsche Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit verknüpfte in einem Buch Popmusik und Psychoanalyse. Kein Wunder sind Sexualität, Tod, unterdrückte Gefühle, Liebe und Befreiung doch die bevorzugten Themen von allen beiden - auch wenn Freud persönlich wenig mit Musik anzufangen wusste, wie Theweleit schreibt.
->   Freud und die Pop-Musik (2.6.06)
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Psychoanalyse und Karikaturen
 
Karikatur: New Yorker/Mankoff

Als "Königsweg ins Unbewusste" galt Freud zwar der Traum. Aber auch in anderen Produktionen der Psyche offenbaren sich Mehrdeutigkeiten, die man analysieren kann - etwa in Witzen und Karikaturen. Der Kunsthistoriker Dario Gamboni zog deutliche Parallelen zwischen Psychoanalyse und Bilder-Witzen.

Dass Freud und seine Lehre selbst regelmäßig zum Gegenstand von Karikaturen geworden sind, zeigten eine Ausstellung und ein Buch mit Material aus mehreren Jahrzehnten. Wie auf dem Bild oben zu sehen, können die Fachbegriffe so manchen Analysierten durchaus vor Rätsel stellen.

Und das ist wohl auch heute noch so, wenn das Gedenkjahr zu Freud vorüber ist - das Jahr, in dem wir uns frei nach Liessmann versicherten, dass "Freud auch wirklich tot ist".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 27.12.06
->   Dario Gamboni: Parallelen - Analyse von Psychen und Bildern (16.11.06)
->   Ausstellung und Buch: Karikaturen über Freud (14.4.06)
->   Alle Beiträge zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud
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Auch Ö1 widmete Freud 2006 einen Programmschwerpunkt:
->   Projekt Freud in oe1.ORF.at
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->   150. Todestag von Heinrich Heine
->   400. Geburtstag von Rembrandt
 
 
 
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01.01.2010