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Zukunft der Berufsbildung: Ungebildet, aber employabel?  
  Bei steigender Jugendarbeitslosigkeit reagiert die Politik gerne mit dem Ruf nach besserer Berufsbildung. Im Zentrum steht dabei seit einigen Jahren das Erlernen bestimmter "Skills", welche die "Employability" der Jugendlichen erhöhen sollen. Dass dieses Erlernen von Fähigkeiten, die kurzfristig die Nachfrage des Arbeitsmarkts befriedigen sollen, langfristig zum Eigentor werden kann, kritisierten Experten vor kurzem bei einer Tagung, wie die Bildungswissenschaftlerin Agnieszka Dzierzbicka in einem Gastbeitrag schreibt.  
Arbeit, Erziehung und "Employability"
Von Agnieszka Dzierzbicka

Die steigende Quote der arbeitslosen Jugendlichen EU-weit hat auch die Berichterstattung des Jahres 2006 bestimmt. Im Vordergrund standen Fragen der Jobbeschaffung. Selten wurde dabei der eigentliche Aspekt der beruflichen Qualifikation ins Treffen geführt, die Berufsbildung.

Im Dezember ging bei der Tagung "Work, Education and Employability" eine internationale Expertengruppe im Schweizer Tessin, finanziert von der ETH Zürich, der Frage nach dem aktuellen Verhältnis von Arbeit und Bildung nach.

Dabei wurden angloamerikanische Konzepte der "Employability" ebenso wie das für den deutschsprachigen Raum so typische duale Ausbildungssystem oder etwa die firmenorientierte "Karriere-Bildung" Japans beleuchtet.
Das Regime der Arbeit
Gemeinsam ist den so unterschiedlichen Qualifikationskonzepten die Abhängigkeit von der Arbeitswelt, deren aktuelle Entwicklung die Berufsbildungsinstitutionen wie betroffene Jugendliche - gelinde formuliert - herausfordert.

Trotz und wegen der angespannten Arbeitsmarktsituation wurden bei der Tagung "riskante Chancen" geortet, "soziale Utopien" gefordert und politische Interessen verfolgt.

Freilich fehlte es dabei nicht an Verweisen auf den Spirit des Monte Verità im Tessin, der als Wiege der Alternativbewegung gilt und im Jahr 1900 als eine Gegenwelt zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gegründet wurde. Allein es blieb bei den gut gemeinten Gesten.
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Tagungsort Monte Verità
Bis 1940 lassen sich unterschiedliche Phasen in Monte Verità ausmachen: erst eine anarchistische, dann eine vegetarische, Dadaisten und Expressionisten machten ebenso Halt wie Feministinnen, Nudisten, Pazifisten, Schriftsteller oder etwa Psychotherapeuten.

1920 wurde Monte Verità schließlich zum gefragten Sanatorium mit radikalen Grundsätzen, die verbunden waren mit strengem Rohkost-Vegetarismus, Antialkoholismus, Reformkleidung und Frauenbefreiung. Auf die Suche nach dem wahrhaften Leben - oder zumindest gegen seinen Alkoholismus - machte sich dort u.a. auch Hermann Hesse. Heute ist die Stätte ein Konferenzzentrum, das von der ETH-Zürich und dem Kanton Tessin betrieben wird.
->   Programm "Work, Education and Employability" (pdf-Datei)
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Beschäftigung statt Ausbildung
Keine Frage, die Etablierung des Berufsbildungssystems ging, wie der Erziehungswissenschaftler Philipp Gonon von der Universität Zürich in seinem Eröffnungsvortrag hervorhob, mit der Forderung nach Nähe zur Arbeitswelt einher.

Aktuelle Entwicklungen haben jedoch aus dieser Nähe eine Verpflichtung werden lassen, die im Konzept der "Employability", auf deutsch etwas unelegant Beschäftigungsfähigkeit, ihre Bezeichnung gefunden hat.

Nicht länger ist von Bildung oder Ausbildung die Rede, sondern von der Notwendigkeit, gewisse "Skills", die "Employability" versprechen, zu erwerben.
Kurzsichtiger Trend
Der Trend in Europa Richtung "Skills", Kompetenzen und "Work-Based Learning" erweist sich aber zunehmend als ein kurzsichtiger. Denn er reduziert die professionelle Ausbildung auf ein schnelles Erlernen von gerade in der Arbeitswelt notwendigen Kompetenzen. Diese prinzipielle Ausrichtung favorisiert "quick and easy solutions to complex problems", wie Terry Hyland, University of Bolton (Großbritannien) beispielsweise kritisierte.

Problematisch an dieser Entwicklung ist, dass ein umfassendes Ausbildungskonzept, das ein bestimmtes Verständnis von beruflicher Praxis beinhaltet, durch vorgeschriebene "Skills" und Kompetenzen ersetzt wird.

Auf diese Weise wird die einst geforderte Balance zwischen allgemeiner und berufsspezifischer Bildung aufgegeben. Dass es sich dabei nicht um die notwendigen Reformen des Berufsbildungssystems handeln kann, darüber waren sich Vortragende wie Diskutanten einig.
Duales System zwiespältig
Im deutschsprachigen Raum verbreitet und auch in Österreich gültig ist das duale Ausbildungssystem: Lernen geschieht an zwei Orten, z.B. die Ausbildung in Betrieben mit begleitendem Unterricht an den Berufsschulen. Obgleich diesem System eine abfedernde Wirkung in Sachen Jugendarbeitslosigkeit zugeschrieben wird, erfuhr es aus der Perspektive der Experten unterschiedliche Bewertung.

Während der OECD-Gutachter und Erziehungswissenschaftler Norton Grubb, University of California in Berkeley, die Vorteile des Systems lobte, fand der Australier Paul Hager, University of Technology, Sidney, deutliche Worte der Ablehnung: "a lousy System, you've got in Austria".

Faktum ist jedenfalls, dass der Strukturwandel auch das lang bewährte Konzept der dualen Ausbildung auf Grund fehlender Lehrstellen in Bedrängnis bringt.
Japans "Karriere-Bildung" in Not
Auch in Japan, einem weiteren Vorzeigeland der Jugendbeschäftigung, kriselt es. Zwar gibt es in Japan so etwas wie schulische Berufsbildung nicht, dennoch ist auch das dortige Qualifikationssystem in den letzten drei Jahrzehnten zu einem gesellschaftspolitisch brisanten Thema geworden.

Die so genannte "Karriere-Bildung", eine Form der Ausbildung, die auf Grund des reibungslosen Übergangs zwischen Schule und Arbeitsplatz weltweit Anerkennung fand, ist nun durch Stellenabbau und Standortfragen im Dilemma.
Ausschließlich innerbetriebliche Ausbildung
Wie die Erziehungswissenschaftlerin Toshiko Ito von der Universität Mie (Japan) veranschaulichte, bleibt der Schule ausschließlich die Allgemeinbildung vorbehalten. Je nach Schulerfolg erhalten Jugendliche Aussichten auf Karrieren durch eine Anstellung und innerbetriebliche Berufsbildung.

Konnten einst bereits Schulkinder, die in Firmen schnupperten, bzw. umgekehrt junge Talente seitens der Firmen entdeckt gefördert und übernommen werden, fehlen mittlerweile ganzen Jahrgängen Perspektiven.
Paradoxe Situation für Frauen
Der Strukturwandel von Arbeit verändert nicht nur vielerorts die Perspektiven, sondern auch deren Implikationen. Besonders gravierend scheinen sie für Frauen.

So verwies die Soziologin Hildegard Maria Nickel, Humboldt-Universität Berlin, auf die paradoxe Situation von Frauen angesichts des allgemeinen Trends Richtung Dienstleistungsökonomie.

Demnach haben sie mehr denn je die Möglichkeit der Teilhabe am Erwerbsprozess, zugleich sind sie aber am meisten gefährdet, wenn es um soziale Risiken, Prekarität und Integration geht.
(Selbst)Befähigung der Individuen
Hier ortet Nickel die "riskante Chance" auf mehr Gleichheit in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wie auch in der betrieblichen Interessensvertretung.

Voraussetzung dafür ist die Stärkung der betrieblichen Verhandlungsebene (z.B. Zielvereinbarungen), die individuelle Einflussnahmen und Gestaltung von Arbeitsstrukturen ermöglichen soll.
Utopien der Erwerbslosigkeit
Für die soziale Utopie der Überwindung von Arbeit plädierte Erich Ribolits, Universität Wien, zumal der Erwachsenenbildner keine Perspektive darin sieht, gegenwärtige Probleme des aktuellen Produktivitätsfortschritts dadurch zu lösen, dass sich alle noch mehr anstrengen, um der Verwertung gerecht zu werden.
Bis ins hohe Alter
Naturgemäß sieht es die Steuerungspolitik anders. Hier wurde das Motto in Anlehnung an das Konzept des Lebenslangen Lernens ausgerufen: "Employability bis zum Lebensende!"

Ob der starken Anknüpfung an die Arbeitswelt bekräftigte etwa Ernst Buschor, Vizepräsident des ETH-Rates und vormaliges Mitglied der Regierung des Kantons Zürich, ungeachtet der Kritik, "Employability" als Qualifikationskonzept.
Nur Beschäftigte employabel
Auf den Punkt brachte die Problematik Katrin Kraus von der Universität Zürich. Demnach sei die Krux der "Employability", das man diese erreicht, wenn man employed, also eingestellt wird. So lange es keinen Job gibt, solange mangelt es an der Employability.

Da nützen auch die besten Schulungsmaßnahmen nichts, weder für Jugendliche noch für fitte Senioren.

[9.1.07]
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Über die Autorin
Agnieszka Dzierzbicka ist Universitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Vertrags- und Vereinbarungskultur, Cultural Studies und Gouvernementalität.
->   Agnieszka Dzierzbicka (Uni Wien)
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->   Monte Verita (Wikipedia)
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01.01.2010