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Amnesie macht blind für die Zukunft  
  Dass Amnesie-Patienten ein stark eingeschränktes Erinnerungsvermögen haben, ist allgemein bekannt. Britische Forscher wiesen nun nach, dass ihnen auch ein näherer Bezug zur Zukunft fehlt: Denken sie an zukünftige Ereignisse, entsteht vor deren geistigem Auge nur ein dürftiges, unvollständiges Bild.  
Der Grund dafür: Mit dem Gedächtnisverlust geht offenbar auch ein Orientierungsdefizit einher. Das schwächt die Vorstellungskraft, berichtet ein Team um Eleanor Maguire vom University College London.
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"Patients with hippocampal amnesia can not imagine new experiences" von Demis Hassabis erschien in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (15.-19. Jänner 2007, doi: 10.1073/pnas.0610561104).
->   Abstract (sobald online)
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Gedankenbilder malen
Stellen sie sich folgende Situation vor: Sie sitzen in einem Kaffeehaus, trinken Espresso und lesen Zeitung. Im Hintergrund sind einige Stimmen zu hören, der Raum riecht nach Kaffee, Tabak und Apfelstrudel. Rechts neben ihnen sitzt eine junge Frau, sie füttert ihr Baby mit einem orangefarbigen Brei. "Karotten mit Mais und Kalb" steht auf dem Glas mit der Kindernahrung. Am Tisch daneben ein Pensionist. Er blättert beiläufig in einem Magazin, blickt immer wieder hoch, scheint auf jemanden zu warten ...

Für gesunde Menschen ist es nicht schwierig, sich eine Alltagsszene vorzustellen, die man zwar nicht konkret erlebt hat, die man aber später durchaus erleben könnte. Und es scheint auch kaum Grenzen zu geben, sich dabei immer neue Details auszudenken und vor dem geistigen Auge erscheinen zu lassen.

Für Amnesie-Patienten ist das hingegen eine schwierige Übung. Ihr Gedankenbild bleibt seltsam blass.
Experiment mit Vorstellungen
Das ist insofern überraschend, als Amnesie zunächst nur für Gedächtnisverlust bekannt ist. Schon das griechische "amnestia" deutet darauf hin. Es heißt: "das Vergessen".

Wie kann man aber Zukünftiges vergessen? Der Zusammenhang zwischen Vergangenem und Zukünftigem, zwischen Vergessen und mangelnder Vorstellungskraft hat mit dem organischen Auslöser der Krankheit zu tun:

Eleanor Maguire bat nämlich fünf Patienten ins Labor, die an einer speziellen Form der Amnesie leiden, bei der der so genannte Hippocampus geschädigt ist. Dieser spielt wiederum nicht nur bei der Gedächtnisbildung eine entscheidende Rolle, sondern auch bei der Orientierung im Raum.

Und genau dieses Defizit dürfte den Amnesie-Patienten Probleme bereitet haben: Sie mussten sich in den Versuchen fiktive, aber alltägliche Situationen vorstellen (etwa: ein Tag am Strand, ein Musemsbesuch etc.) und diese dann beschreiben. Im Vergleich mit gesunden Probanden fielen ihre Beschreibungen detailärmer und weniger lebensnah aus.
Geistige Orientierung gestört
Ein genauer Blick auf die Daten ergab, dass die Patienten offenbar Schwierigkeiten hatten, ein stimmiges Szenario zu entwerfen. Ihren Vorstellungen fehlte meistens der räumliche Kontext, sie zerfielen in einzelne, weitgehend unzusammenhängende Bilder.

Maguire und Kollegen vermuten daher, dass der Hippocampus nicht nur für die Orientierung im realen, sondern auch im fiktiven Raum wichtig ist. Er lässt die Dinge im Geist geordneter, realistischer und daher zu einem gewissen Grad auch lebendiger erscheinen.
Je plausibler, desto schwieriger
Das passt im Übrigen auch gut zu einer Studie des Harvard-Psychologen Daniel L. Schacter: Er wies kürzlich mit bildgebenden Methoden nach, dass der rechte Hippocampus bei Gedanken an zukünftige Ereignisse regelrecht "anspringt" (Neuropsychologia, Online-Veröffentlichung).

Allerdings dürfte die Situation doch etwas komplizierter sein, wie die Gedächtnisforscherin Shayna Rosenbaum gegenüber dem Newsdienst von "Nature" hinweist. Sie führte ähnliche Versuche mit dem Patienten "K.C." durch, dessen Hippocampus seit einem Motoradunfall vor 20 Jahren stark lädiert ist.

Rosenbaum fand heraus, dass K.C. nur dann Schwierigkeiten bei der Vorstellung zukünftiger Episoden hatte, wenn sie plausibel waren. Sollte er sich hingegen die Landung eines Raumschiffes vorstellen, schnitt er deutlich besser ab. Rosenbaums Folgerung: Offenbar scheiterte ihr Patient nur dann an der Aufgabe, wenn er dafür Versatzstücke aus seinem persönlichen Gedächtnisfundus benötigt hätte.

Robert Czepel, science.ORF.at, 16.1.07
->   Eleanor Maguire - University College London
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01.01.2010