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Ernährung: Wie der Körper Wissen speichert  
  Kaum ein Zweig der Wissenschaft hat so unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der Menschen wie die Erforschung der Ernährung. Jahrhunderte lang gab es für Nahrung ein Hauptkriterium: Wie schnell und gut sie ins Blut übergeht. Dem Körper und seinen Säften als "Wissensspeicher" geht die Wissenschaftshistorikerin Barbara Orland bei einer Tagung in Wien nach. In einem Gastbeitrag zeigt sie, wie sich die Menschen bis ins 19. Jahrhundert die Vorgänge der Ernährung erklärten und wie dieses Wissen bis in die Gegenwart nachwirkt.  
Geht es ins Blut über ...?
Von Barbara Orland

"Der arbeitsame, in beständiger Bewegung lebende Mensch", so kann man in Krünitz Oeconomischer Encyklopädie aus dem Jahr 1777 lesen, "(muss) viel essen, weil er durch Schweiß, Urin und andere Ausführungen, viel Säfte verliert."

Jungen, kranken oder stillsitzenden Personen dürfe man hingegen nur wenig und möglichst flüssige Nahrung verabreichen, weil sie kaum Säfte von sich geben. Feste Nahrung erschien grundsätzlich schwerer verdaulich, weil sie nicht leicht in die Säfte des Körpers umgewandelt wurde.

Flüssige Nahrung hingegen war weniger nahrhaft, weil sie zu wenig feste Materie enthält. Wenn ein Mensch hungerte, dann verlor er nicht nur Körpermasse, er trocknete aus, Andererseits wurden viele Mangelkrankheiten auf zu wässriges Blut zurückgeführt.
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Vom 22.-24. Februar 2007 findet am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien (Hanuschgasse 3, 1010 Wien) die Tagung "Wissen und Geschlecht" statt. Barbara Orland gibt am 23.2. die keynote mit dem Titel "Blut und Milch erzählen - der Körper als Wissensspeicher".
->   Programm der Tagung
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Das Blut - Vater aller Körpersäfte
Die Bekömmlichkeit und Nahrhaftigkeit eines Nahrungsmittels hing einzig von der Frage ab, wie leicht und schnell es ins Blut überzugehen vermag. Aus Fleisch wird Blut, aus Blut wird Fleisch, lautete die Formel.

Die fortwährend zirkulierende und Körper wie Geist belebende Substanz entstand aus den Säften, die während der Verdauung bereitet wurden. Ob der rote Saft gut oder schlecht gelungen war, hing folglich mit der Qualität der genossenen Nahrung zusammen.
Deutscher Geist folgt deutscher Küche
Seit der Antike wurde vom Blut unmittelbar auf den Charakter, das Gemüt, die Stimmung geschlossen. Aber auch noch Friedrich Nietzsche meinte: "Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig."

Der Philosoph hatte keinen Zweifel daran, dass dieser Stumpfsinn eine Folge "betrübter Eingeweide" war, die die deutsche Küche mit ihren totgekochten Fleischgerichten, fettigen Gemüsen und Mehlspeisen wie Briefbeschwerern auf dem Gewissen hatte.
Verdauung und Assimilation
Zwar verfügen alle Lebewesen über das Vermögen, sich im Vorgang der Blutbildung Fremdes anzugleichen, es zu assimilieren. In einem kontinuierlichen Vorgang der Verkleinerung, Verdünnung und Vermischung mit den Säften des Körpers wird die Nahrung auf ihrem Weg vom Mund durch den Magen-Dram-Trakt bis zur Umwandlung in Blut zahlreichen Manipulationen ausgesetzt.

Doch manchmal, wenn die Verdauungskräfte versagen oder eine besonders hartnäckige Nahrung den Körper passiert, dann dauert es länger, bis diese ihre eigene Natur abgelegt und völlig gleichförmig mit den festen und flüssigen Teilen eines Körpers wird.

Deshalb riechen Menschen nach Knoblauch, färben bestimmte Pflanzen das Fleisch der Tiere tiefrot oder führen giftige Pflanzen zu geistiger Verwirrung.
Wissenschaft bei Ernährung besonders alltagsnahe
In einer Zeit, in der Kinder bereits im Kindergarten lernen, nach Vitamin C statt nach Obst zu verlangen, die Qualität der Nahrung grundsätzlich in chemisch definierten Nährstoffen sowie Kalorien bemessen wird, wirken alte Ernährungstheorien skurril, und so mancher Ernährungsratschlag lädt zum Schmunzeln ein.

Dennoch lohnt eine Beschäftigung damit aus zumindest drei Gründen:

1) Die Ernährung gehört zu jenen Bereichen, in denen wissenschaftliche Theorien radikal und nachhaltig ihren Einfluss auf das Alltagshandeln geltend machen konnten.

2) Die Verdrängung alter Ideen und der Aufschwung moderner Stoffwechseltheorien standen Pate bei der Entstehung vieler Biotechnologien, und auch die heutige Nahrungsmittelindustrie ist ohne diese nicht zu denken.

3) Weil die alltäglichen Konflikte auf dem Massenmarkt an Nahrungsmitteln auch nicht mehr ohne Rückbezug auf chemisch-physiologische Theorien des Stoffwechsels geschlichtet werden können, ist die Abhängigkeit von wissenschaftlicher Expertise gestiegen.
Ernährungsentscheidungen auch heute schwierig
Trotz geballtem wissenschaftlichen Sachverstand sind Ernährungsentscheidungen heute aber auch nicht einfacher zu treffen als vor zweihundert Jahren.

Es ist daher nicht nur von historischem Interesse zu fragen, wie der grandiose Erfolg des modernen ernährungswissenschaftlichen Denkens zu erklären ist.

[20.2.07]
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Über die Autorin
Barbara Orland promovierte nach einem Studium der Politischen Wissenschaften und Geschichte in Berlin 1991 mit einer Arbeit zur Technisierung der privaten Haushalte. Zur Zeit ist sie geschäftsführende Oberassistentin des Zentrums "Geschichte des Wissens" der ETH Zürich.
->   Barbara Orland (ETH Zürich)
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->   Projekt "Stoffwechsel" von Barbara Orland (ETH Zürich)
->   Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien
 
 
 
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01.01.2010