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Mäuse: Bewegung macht Gendefekt rückgängig  
  US-Forscher haben bei Mäusen ein Gen ausgeschaltet, das für die Stabilität der Blutgefäße verantwortlich ist. Dabei fanden sie heraus, dass sich der genetische Defekt offenbar relativ leicht beheben lässt: Wachsen die Mäuse in Boxen mit Laufrad und anderem Turngerät auf, entwickeln sich ihre Blutgefäße fast so wie bei gesunden Tieren.  
Das weist darauf hin, dass der Einfluss von Umweltfaktoren beim so genannten Gen-Knockout bisher zu wenig berücksichtigt wurde, berichtet ein Team um Ann L. Baldwin von der University of Arizona.
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"Knockout Mice: Is It Just Genetics? Effect of Enriched Housing on Fibulin-4+/2 Mice" von Elizabeth Cudilo et al. ist im Open-Access-Journal "PLoS ONE" erschienen (Bd. 2, e229; doi: 10.1371/journal.pone.0000229).
->   Zur Studie
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Kontrastverschärfung im Labor
Gute Experimente sind in gewisser Hinsicht wie Karikaturen. Sie vereinfachen die Welt und überzeichnen sie. Bei der Karikatur ist das im besten Fall witzig, weil dadurch Tendenzen zutage treten, die normalerweise in dieser Deutlichkeit nicht sichtbar sind.

Und wenn Experimente einen Witz haben, dann besteht er ebenfalls darin: Erfolgreiche Versuche ermöglichen neue Einsichten, sie legen bislang unbekannte Zusammenhänge frei.
Knockout für Gene
Das ist im Bereich der Biomedizin etwa mit dem so genannten Knockout-Verfahren möglich. "Knockout" bezieht sich hier auf Gene im Erbgut von Versuchstieren, die man gezielt lahm legt, um etwas über deren Funktion zu erfahren. Das geht in der Regel folgendermaßen vor sich: Fehlt das Gen X in der Entwicklung des Tieres, führt das unter Umständen zu sichtbaren Fehlbildungen.

Diese Fehlbildungen sind von den Forschern durchaus erwünscht, weil sie Hinweise darauf geben, was das Gen X im gesunden Tier tut. Bei der Maus, dem wichtigsten Modellorganismus der Medizin, wurde die Methode in den späten 1980ern eingeführt. Seitdem ist sie von nicht mehr wegzudenken aus der Laborwissenschaft - etwa bei der Erforschung von Krebs, Diabetes, Fettleibigkeit, Arthritis, Parkinson, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vielem anderen mehr.
->   Knockout-Maus - Wikipedia
Tödlicher Eingriff
Ein aktuelles Beispiel: Ein Team um Ann L. Baldwin von der University of Arizona benutzte kürzlich das Knockout-Verfahren, um die Funktion des Gens Fibulin-4 genauer zu untersuchen, das offenbar für die Stabilität von Blutgefäßen sorgt. Das weiß man unter anderem aus einer Studie an Mäusen, bei denen beide Kopien des betreffenden Gens blockiert wurden.

Der genetische Eingriff erwies sich als tödlich: Die Tiere starben noch vor der Geburt an inneren Blutungen (Molecular and Cellular Biology 26, 1700).
Halber Knockout bei Blutgefäß-Gen
Nachdem es von jedem Gen zwei Ausgaben im Erbgut gibt, kann man die Knockout-Methode auch in einer milderen Variante durchführen. Und zwar, indem man nur eine der beiden Kopien eliminiert.

Das haben nun Baldwin und ihr Team getan, durchaus mit interessanten Ergebnissen: Im Gegensatz zum Totalausfall von Fibulin-4 zieht die "halbe" Unterdrückung des Gens keine sichtbaren Konsequenzen nach sich. Die Tiere sind lebensfähig und unterscheiden sich äußerlich von ihren gesunden Artgenossen nicht.

Es sei denn, man blickt durch das Elektronenmikroskop. Da zeigen sich nämlich doch Unterschiede, wie die US-Forscher berichten: Die Blutgefäße der genetisch behandelten Tiere weisen auffällig viele unorganisierte Gewebsbereiche auf, die vermutlich die Integrität des Organs beinträchtigen.

Das ist nicht ganz überraschend, denn schon bisher vermutete man, dass Fibulin-4 wie eine molekulare Brücke wirkt, an der sich andere Stützsubstanzen - etwa Kollagen und Elastin - ausrichten.
Wiederholung mit neuem Lebensraum
Bis zu diesem Punkt war das Vorgehen der US-Forscher durchaus konventionell, aber Baldwin und ihr Team taten noch etwas. Sie wiederholten die Versuche, nur unter geänderten Rahmenbedingungen.

Diesmal zogen sie die Mäuse nicht wie zuvor zu sechst in kleinen Standardboxen auf, sondern gaben je vier Tiere in ein größeres Gehege, das zudem mit allerlei Gerät ausgestattet war - Sockel, Leiter, Tunnel und Laufrad. Wie zu erwarten, waren die Tiere bei diesem Versuchsdurchgang viel aktiver und dadurch auch deutlich schlanker.

Das Körpergewicht der Mäuse in den Standardkäfigen war fast doppelt so hoch, was sich auch in den Gewebsproben widerspiegelte. Die inaktiven Mäuse hatten signifikante Mengen Fettgewebe im Bereich ihrer Blutgefäße, die aktiven Mäuse hingegen nicht.
Gendefekt annähernd kompensiert
Und auch der Vergleich hinsichtlich der ungeordneten Gewebsstrukturen fiel klar aus: Genetisch behandelte Mäuse wiesen 172 solcher Bereiche pro Quadratmillimeter auf, die gesunden Tiere 15. Waren die Wohnungen hingegen mit Turngeräten ausgestattet, fiel der Wert auch bei den Knockout-Mäusen auf 35.

Der genetische Defekt kann also durch geeignete Umweltreize fast wettgemacht werden, folgern Baldwin und Kollegen und stellen folgende Vermutung in den Raum:

"Viele Forscher könnten sich der Tatsache nicht bewusst sein, dass die Lebensbedingungen von Knockout-Mäusen die Versuchsergebnisse maßgeblich beeinflussen. Sofern man die beobachteten Effekte nur auf genetische Faktoren zurückführt, besteht die Gefahr, dass solche Experimente falsch interpretiert werden."
Methode neu zu überdenken?
Inwieweit dieses Argument auch für andere Bereiche der Biomedizin zutrifft, ist noch nicht klar. Bisher weiß man nur, dass es zumindest im neurologischen Bereich ähnliche Hinweise gibt.

Mäuse, die etwa als genetisches Modell für Alzheimer und Chorea Huntington verwendet werden, entwickeln die typischen Krankheitssymptome nur dann in voller Stärke, wenn sie in engen, monotonen Gehegen aufwachsen. Unter reichhaltigen Lebensbedingungen fällt der Defekt hingegen weitaus weniger ins Gewicht.

[science.ORF.at, 21.2.07]
->   Ann L. Baldwin - University of Arizona
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01.01.2010