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Historikerin: Seit wann "Alpenmilch" die beste ist  
  Dass Alpenmilch die beste und gesündeste ist, erscheint hierzulande wohl den meisten selbstverständlich. Und doch kann man diese Einschätzung historisch genau verorten. Gerade als die regionale Milchwirtschaft in Europa zugrunde ging und größere Märkte entstanden, besann man sich der lokalen Tradition: ein "Marketing-Argument" im 19. Jahrhundert, wie es die Wissenschaftshistorikerin Barbara Orland von der ETH Zürich in einem Interview bezeichnet.  
science.ORF.at: Wie sind Sie zum Untersuchungsgegenstand Milch gekommen?

Barbara Orland: Neben privaten Gründen durch die Unzufriedenheit mit der Art, wie bis dahin Wissenschaftsgeschichte betrieben wurde: entweder über die großen Wissenschaftler und Ideen bzw. über die praktische Kontexte - wie etwa Experimente gemacht werden oder Labors aussehen. Das war mir zu ungenügend für meine Frage nach dem Verhältnis von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen.

Die bis dahin gültigen Erklärungen gingen in zwei Richtungen. Entweder: Was wissenschaftlich wahr ist, muss sich durchsetzen. Oder neuer: Was wissenschaftlich produziert wird, wird popularisiert und verbreitet sich über verschiedene Medien.

Ich denke hingegen, dass man auch über die Objekte selbst - die sowohl Gegenstand der Forschung als auch des Alltags sind - Wissenschaftsgeschichte schreiben kann. So bin ich auf die Milch gestoßen.
Warum ist gerade Milch so ein gutes Beispiel, um dieses Verhältnis von Alltags- und wissenschaftlichem Wissen zu beleuchten?

Milch steht in ganz verschiedenen Kontexten, die die Grenzen zwischen Experten- und Alltagswissen überschreiten. Mediziner, Chemiker, Frauen, Mütter, Hebammen, Krankenschwestern und viele andere haben sich zu diesem Thema geäußert, ein Feld von ganz unterschiedlichen Akteuren. Bereits über die Frage "Was ist Milch?" eröffnet sich ein breiter gesellschaftlicher Horizont.
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Barbara Orland ist geschäftsführende Oberassistentin des Zentrums "Geschichte des Wissens" der ETH Zürich.
->   Barbara Orland (ETH Zürich)
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Wenn man heute Fremdenverkehrswerbung ansieht, bekommt man oft wunderschöne Berge mit entsprechenden Kühen zu sehen. Seit wann existiert dieses "Branding der Nationen"?

Ich würde es auf die platte Formel bringen: Das regionale Produkt wurde in dem Moment erfunden, als die regionale Milchwirtschaft zugrunde gegangen ist.

Bis in das frühe 19. Jahrhundert wurde zwar europaweit Milch konsumiert, aber es gab nur bestimmte Produktionszonen mit einer Milchwirtschaft, die über die Subsistenz hinausgegangen ist.

Das war keine nationale Angelegenheit, sondern richtete sich nach der Bodenbeschaffenheit: Bergregionen, wo Ackerbau schwierig war, etwa in den Alpen, aber auch Küstenregionen wie Holland, Dänemark und Schweden.
Danach hat sich aber einiges geändert. Können Sie ein Beispiel für die zunehmende Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit der Landwirtschaft nennen?

Das Berliner Königshaus hat sich etwa im 17. Jahrhundert Holländer geholt, um den Oderbruch urbar zu machen - zum einen als Landgewinnungsmaßnahme, zum anderen als Wirtschaftsmaßnahme zum Ausbau von Vieh- aber vor allem Milchwirtschaft. Da sieht man den Zusammenhang zwischen dem Land, regionalen Bedingungen und Milchprodukten.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung dieser Zusammenhang verloren gegangen, heute spielt es so gut wie keine Rolle mehr, wo man Kühe hinstellt. Als aber in Folge die Konkurrenz auf den milchwirtschaftlichen Märkten europaweit dramatisch zugenommen hat, brauchten die zur Milchindustrie gewachsene Milchwirtschaft neue Argumente zur Unterscheidung gegenüber Konkurrenten auf dem Markt.

Und da erinnerte man sich der Tradition. In dieser Zeit kommt das Argument auf, die auf den Bergen produzierte Butter, die Alpenbutter sei die beste. Es wurde also ein alter regionaler Zusammenhang umdefiniert in ein Marketing-Argument.
Den Kühen und ihren Produkten wurden also hinsichtlich ihrer Herkunft unterschiedliche Qualitäten zugeordnet?

Ja, man kann sagen, dass bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein sehr enger Zusammenhang bestand zwischen Land, Boden, Fruchtbarkeit, Tier und handwerklichen Fähigkeiten, die dort gelebt haben.

Der Schweizer Hirtenjunge ist ein Nationalsymbol, das mit seiner wirtschaftlichen Bedeutung heute nicht mehr zu begründen ist, die er aber einmal hatte. Da ist etwas zu einem Symbol geworden in einem Moment, wo es praktisch unrelevant wurde.

Das gilt auch für die anderen Aspekte, für die Tiere, für den Boden und die Pflanzen und auch für die Bauern und ihre handwerklichen Fähigkeiten.
Welche Rolle hat dabei die Wissenschaft gespielt?

Genau als die Holländer und Friesen nach Berlin-Brandenburg geholt wurden, und zwar immer in der Kombination Kuh und Käse, so wurden im südeuropäischen Raum der Schweizer Senn und die Schweizer Kuh transferiert.

Hier fand ein Wissenstransfer statt, punktuell schon ab dem 17. Jahrhundert, und dann bilden sich so Vorurteile heraus: Die Holstein-friesischen Kühe oder die Schweizer sind die besten etc.

Diese Ideologien kombinierten sich dann mit gezielten Züchtungsmaßnahmen, die in dem Versuch gipfelten, die Milchleistung zu steigern. Die Produktion der Hochleistungskuh ist eine systematische agrarpolitische Maßnahme des 19. Jahrhunderts.
Es gibt auf der einen Seite die Hochleistungskuh, die immer mehr Milch produzieren soll, auf der anderen Seite gibt es einen Trend zu Bioprodukten, v.a. zur Biomilch. Wie verhält sich das zueinander?

Das Besondere an den Ökomilchbauern ist, dass am Produkt der Unterschied zu konventioneller Landwirtschaft kaum mit den fünf Sinnen wahrgenommen werden kann. Man ist völlig auf die abstrakte Idee von "guter Landwirtschaft" angewiesen.

Das unterscheidet Milchbauern z.B. von Apfelbauern, bei denen der Unterschied ihrer Produkte zu einem Granny Smith aus der industriellen Produktion viel augenscheinlicher ist.

Die Weiterverarbeitung nach hygienischen Gesichtspunkten behandelt Biomilch gleich wie konventionelle Milch, auch sie geht durch die Molkerei, wird pasteurisiert, bei der technischen Verarbeitung ist gar nicht so viel Unterschied.
Umso mehr ist es überraschend, dass es derartige Zuwachsraten bei Bioprodukten gibt. Woher kommt dann dieser Glaube an die "gute Landwirtschaft"?

Unter anderem daher dass die Diskussion um den Öko-Landbau wieder den Blick auf die Tierhaltung gelenkt hat, und die Öko-Bauern nachweisen können, dass die Tiere dort bessere Ställe haben, Auslauf haben, bessere Nahrung bekommen.

Da sind Standards einzuhalten, und insofern nicht von der Hand zu weisen, dass es Unterschiede gibt zum konventionellen Landbau, aber nicht auf allen Stufen der Produktion.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 14.3.07
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01.01.2010