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Hirnverletzung ändert die Moral  
  "Handle immer so, dass das größtmögliche Maß an Nutzen entsteht", lautet die Maxime des Utilitarismus. Was aber, wenn man für das Glück vieler Menschen einen Mörder umbringen müsste? Gesunde Menschen erleben bei Fragen dieser Art große innere Konflikte. Menschen mit einer bestimmten Hirnverletzung hingegen nicht, wie nun US-Forscher nachgewiesen haben.  
Wessen Emotionszentrum beeinträchtigt ist, handelt eher utilitaristisch, so die Conclusio einer Studie von Forschern um Antonio Damasio von der University of Iowa.
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"Damage to the prefrontal cortex increases utilitarian moral judgements" von Michael Koenigs et al. ist auf der Website von "Nature" (doi:10.1038/nature05631; 21.3.07) erschienen.
->   Zur Studie
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Das Prinzip des "größten Glücks"
Wir treffen jeden Tag moralische Entscheidungen. Meist sind sie zwar klein und unbedeutend, dennoch unterscheiden wir zwischen dem, was gut ist und was schlecht. Aufgrund welcher Kriterien? Konfrontiert mit dieser Frage berufen sich meisten Menschen auf subjektive Instanzen: das moralisches Gefühl, das Gewissen oder den gesunden Menschenverstand.

Derlei Begründungen waren für den britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748 - 1832) zu schwammig. Er wollte die Ethik auf ein von der Vernunft bestimmtes Fundament setzen und erfand das Prinzip des "größten Glücks der größten Zahl".

Ethisch wertvoll ist demnach eine Handlung dann, wenn sie das individuelle Glück und das der Gemeinschaft maximiert. Man kann das auch umgekehrt lesen: Ethisch abzulehnen ist all das, was Leid erzeugt.
Denksport für Ethiker
Das wirkt auf den ersten Blick recht klar. Man schätzt ab, welche Folgen verschiedene Handlungen haben und wählt diejenige aus, die am meisten Glück bzw. am wenigsten Leid verspricht. Wenn beispielsweise das Leben eines Tiers mehr wert ist als der Genuss eines Bratens, muss man folgerichtig Vegetarier werden.

Nur haben Philosophen nicht nur einen Sinn für Klarheit, sondern auch für boshafte Spitzfindigkeiten. Und so wurden die Utilitaristen bald mit Gedankenexperimenten konfrontiert, in denen man quasi zwischen Pest und Cholera wählen musste.
Ein Dilemma
Eine moderne Variante ist etwa folgendes Dilemma: Angenommen, Sie kennen eine HIV-infizierte Person, die plant, mehrere Personen anzustecken. Verhindert das niemand, werden einige der Infizierten sterben.

Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder Sie lassen es zu oder Sie erschießen diese Person. Wie reagieren Sie? Die meisten Menschen würden vermutlich nichts tun, obwohl es in der Theorie vernünftiger scheint, den Tod mehrerer Unschuldiger zu verhindern.
Ursache oder Wirkung?
Genau solche Fragen hat nun ein Team von Neurobiologen um den bekannten US-amerikanischen Hirnforscher Antonio Damasio einer Reihe von Testpersonen vorgelegt. Hintergrund der Studie: Bislang gab es zwar eine Menge von Untersuchungen, die das Verhältnis von Emotionen und Moral mittels bildgebender Methoden beleuchteten.

Dabei kam heraus, dass bei moralischen Entscheidungen auch stark jene Hirnbereiche involviert sind, die mit Gefühlen zu tun haben. Diese Studien zeigten jedoch nicht, ob Gefühle eine Folge oder eine Voraussetzung dieser Entscheidungen sind.
Verletzung reduziert Gefühle gegenüber Menschen
Hier setzten Damasio und seine Kollegen an: Sie baten sechs Probanden ins Labor, die eine Hirnverletzung im Frontallappen der Großhirnrinde erlitten hatten. Konkret im so genannten ventromedialen präfrontalen Cortex (VPC) - diese kleine hinter der Stirn gelegene Region steuert gefühlsmäßige Reaktionen, insbesondere solche, die mit anderen Menschen zu tun haben.

Personen mit Schäden im VPC weisen in der Regel Defizite in Sachen Mitleid und Einfühlungsvermögen auf, auch ihr Schamgefühl ist reduziert. Ansonsten sind sie geistig nicht beeinträchtigt, wie die Untersuchung von Damasio und Kollegen erneut bestätigt: Die allgemeine Intelligenz und das logische Denken blieben bei den Testpersonen unverändert.
Kühles moralisches Kalkül
Die US-Forscher legten den Probanden verschiedene Arten von moralischen Tests vor. Die Reaktionen der VPC-Patienten und der Kontrollgruppen fielen in allen Fällen gleich aus, nur in einer Kategorie gab es klare Unterschiede.

Bei moralischen Entscheidungen mit hohem Konfliktpotenzial reagierten die VPC-Patienten kühl abwägend, zeigten kaum innere Spannungen und entschieden sich überdurchschnittlich oft für vernünftige, aber eben auch grausame Handlungsalternativen. Im Sinn des obigen (Extrem-)Beispiels: Menschen mit einer Verletzung im Frontallappen würden eher den Abzug ziehen. Sie haben weniger Schwierigkeiten, utilitaristisch zu handeln, selbst wenn damit das Leid anderer verbunden ist.

"Unsere Arbeit ist der erste Nachweis einer kausalen Verbindung von Emotionen und moralischen Urteilen", sagt der Co-Autor der Studie, Marc Hauser: "Was uns absolut überrascht, ist die Tatsache, wie selektiv das Defizit ist. Die Verletzung lässt die Fähigkeit, moralische Probleme zu lösen, völlig intakt. Aber sie verändert massiv jene Urteile, bei denen es zu einem Konflikt mit inneren Abneigungen kommt."

[science.ORF.at, 22.3.07]
->   Antonio Damasio - University of Iowa
->   Utilitarismus - Wikipedia
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01.01.2010