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Philosophische Streifzüge durch die Stadt  
  Wie kann man eigentlich von der Stadt namens "New York" oder "Paris" sprechen, wenn man nur winzige Ausschnitte dieser Metropolen kennt? Und was ist die Stadt eigentlich - ihre Gebäude, Straßen oder ihre Menschen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der deutsche Philosoph Rüdiger Zill, derzeit Research Fellow am IFK, in einem Gastbeitrag.  
Wahrnehmung und Orientierung in der Großstadt
Von Rüdiger Zill

Wien gibt es nicht, auch nicht London und Paris, nicht Berlin oder New York. Oder besser: Es gibt sie jeweils nur als "Stadt an sich", die all unseren individuellen Stadterfahrungen zugrunde liegen muss - Erfahrungen, die in eine Vielzahl von Formen zerfallen und dabei völlig unterschiedliche Städte erzeugen.
Die Großstadt als Wahrnehmungsproblem

Das ist anders als in kleinen Orten, die für ihre Bewohner noch auf irgendeine Art intuitiv erfassbar sind. Der Londoner Pionier der Stadtforschung Charles Booth bemerkte 1889: "Auf dem Lande liegt das Gewebe des menschlichen Lebens offen zutage; persönliche Beziehungen binden das Ganze zusammen. Ganz anders sieht es in den Großstädten aus, wo wir, was diese Fragen angeht, in Dunkelheit leben."

Und Ernst Dronke fragt schon 1846 in der damals heftig umstrittenen Studie "Berlin" seine potenziellen Leser: "Aber wie sollt ihr einen Gesamteindruck dieses großen, aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzten Ganzen erhalten?"

Irgendwann im Laufe des 18., und dann verstärkt mit der Industrialisierung und dem explosionsartigen Wachstum der Metropolen im 19. Jahrhundert, wurden die Städte zu einem Wahrnehmungs- und Orientierungsproblem für ihre Bewohner.
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Veranstaltungs-Hinweis
Rüdiger Zill hält am Montag, den 26. März 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Ich wollte sichten, nicht richten". Versuche, die Stadt in den Blick zu nehmen. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK
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Der Aufklärer als Stadtwanderer: Mercier
Einer der ersten, der darauf reagierte, war der Spätaufklärer Louis Sébastien Mercier, der sich sein Paris erwanderte und zwischen 1775 und 1788 in 1049 Miniaturen festhielt.

In einer Mischung aus Beobachtungen, Beschreibungen und Statistiken schildert er den Franzosen ihre Hauptstadt, nicht wie es Touristen heute erwarten, nicht die "Gebäude, Kirchen, Denkmale und Seltenheiten", sondern das soziale Paris, die "moralische Physiognomie dieser kolossalischen Hauptstadt".
Stadtwahrnehmung als Kaleidoskop: Stifter
Merciers "Tableau de Paris" war ein Bestseller seiner Zeit und fand Nachahmer in ganz Europa. Einer davon war niemand Geringerer als Adalbert Stifter. In seinem "Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben" will er uns "in ernsten und heitern Bildern wie in einem Kaleidoskop Szenen dieser Hauptstadt" vorführen.

Sowohl in Merciers Tableau als auch in Stifters Kaleidoskop steckt beides: Einheit und Pluralität, zusammengefasst in der Metaphorik des Bildes. Es soll ein Bild gemalt werden von der Stadt, gleichzeitig ist es eines aus vielen Fragmenten: ein Kaleidoskop oder eine Sammlung von Tableaus.
Die Suche nach dem Überblick
Aber bevor Stifter beginnt, steigt er auf den Turm des Stephansdoms, um so "dem geneigten Leser ... die ungeheure Tafel, auf der dies Häusermeer hinauswogt" zu enthüllen. Mit Stifters Blick vom Turm erleben wir die Geschichte einer Abstraktion, denn sein Blick aus der Vogelperspektive ist noch die konkrete Vision, die der Stadtplan dann in ein Medium abstrahiert, ein Medium, das das Ganze der Stadt in dem Raster ihrer Straßen zu repräsentieren versucht.

Tatsächlich ist die kommerzielle Verbreitung des Stadtplans als Massenprodukt auch eine Neuerung des 18. Jahrhunderts, für die dann durch die Erfindung der Lithographie 1796 auch eine erschwingliche Technik bereitstand, mit der man die Pläne in großer Zahl reproduzieren konnte.
Der Streit um das gute, treffende Detail
Während Stadtpläne aber das Ganze als Ganzes und zwar in einem die Realität verdünnenden Raster repräsentieren wollen, sind es die fragmentarisierenden Tableaus, die das Ganze in einer Sammlung von Details verdichten. Das Ganze soll nicht mehr nur - wie es sich noch Dronke dachte - aus den verschiedenen Elementen vor dem Leser erstehen, sondern sollte gleichzeitig in den einzelnen Details erfahrbar werden.

Die Nachfolgeinstanz sind hier die Querschnittfilme, wie sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden sind, der bekannteste sicherlich Walther Ruttmanns "Berlin - Die Symphonie der Großstadt". Es war dann auch die frühe Filmtheorie, in der der Streit um das richtige, d.h. das signifikante Detail entbrannte. Siegfried Kracauer kritisiert an Ruttmann, er zeige uns nur "Tausende von Details unverbunden nebeneinander".
Ein vernachlässigtes Genre: die Stadtphysiognomien
Mercier war noch buchstäblich ein Einzelgänger, seine Nachfolger konnten ihre Beobachtungen nur noch arbeitsteilig machen; schon Stifter war nur der Primus inter pares, Herausgeber und Vor-Schreiber einer Gruppe von Autoren. Aus ¿Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben¿ erschien dann lange Zeit nur noch eine kleine Auswahl. Erst jetzt ist das ganze Werk im Rahmen der Stifter-Gesamtausgabe wieder greifbar.

Die anderen Stadtphysiognomien sind aber nach wie vor so gut wie gar nicht mehr verfügbar. Es gilt also auch an eine vernachlässigte Literaturgattung zu erinnern.

[23.3.07]
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Über den Autor
Rüdiger Zill ist Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam, und IFK_Research Fellow. Er studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London und promovierte 1994 in Berlin mit der Arbeit "Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien".
Von 1994-1997 Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden. Seit 1997 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam. Publikationen u. a.: Hg. (gem. mit Udo Tietz, Thomas Schäfer), Hinter den Spiegeln. Zur Philosophie Richard Rortys, Frankfurt/Main 2001; Hg., Gestalten des Mitgefühls (Schwerpunktthema von Berliner Debatte Initial, 1/2, Berlin 2006); Hg., Ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache, Berlin 2006; Mitherausgeber der Reihe "Erbschaft unserer Zeit" in der edition suhrkamp.
->   Einstein Forum
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01.01.2010