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Depression als gesellschaftliche Krankheit  
  Die Zahl der Depressionen nimmt ständig zu. Immer mehr Menschen klagen über tief greifende Erschöpfungszustände, Antriebslosigkeit und das Gefühl, völlig "ausgebrannt" zu sein. Der gesellschaftlichen Dimension der Krankheit ging eine Tagung nach, die vorige Woche im deutschen Rothenburg ob der Tauber stattgefunden hat.  
Der Psychoanalytiker Heinrich Deserno vom Sigmund Freud Institut in Frankfurt am Main sprach von der "Volkskrankheit" Depression, die das Leben der Menschen wesentlich beeinträchtige.

Die Depression ist für Deserno nicht nur ein individuelles Problem. Gesellschaftliche und ökonomische Faktoren tragen entscheidend zur Entstehung der Krankheit bei. Berufliche Überforderung, erhöhter Stress, der Zwang, immer zu funktionieren, die Anforderung, mobil zu sein, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, die Sorge um eine gesicherte Pension sind Komponenten, die für die Verbreitung der Depressionen verantwortlich sind.
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Der Kongress "Depression und Gesellschaft", veranstaltet von der Evangelischen Akademie Tutzing, fand vom 23. bis 25. März in Rothenburg ob der Tauber statt.
->   Mehr zu der Tagung
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Phänomenologie der Depression
Deserno beschrieb die Depression als Krankheit der "Losigkeit": Lustlosigkeit, Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, Hoffnungslosigkeit und der Verlust der Libido bestimmen den Alltag der Depressiven.

Es dominiert ein Lähmungsgefühl, das alle Tätigkeiten begleitet. Einfache Alltagshandlungen werden zu unüberwindlichen Hindernissen. Das Bett wird zum magischen Zufluchtsort des Paralysierten, der Schutz vor den bedrohlichen Anforderungen der Außenwelt bietet.
Weitere Symptome
Das Ich des Depressiven fühlt sich minderwertig; jeder Mensch wird als potenzielle Bedrohung empfunden. Schon der Blick des anderen kann zu einer Erstarrung führen; man ist ihm hilflos ausgeliefert.

Tatsächliche oder vermeintliche Angriffe gegen die eigene Person werden immer wieder ins Gedächtnis gerufen; es kommt zu einem "Im-Kreis-Denken", das nicht mehr abgestellt werden kann.

Eine ständige innere Unruhe ist vorherrschend; dazu kommen Schlafstörungen, die die Unruhe noch verstärken. Der Depressive empfindet sich stets als schuldig; für alle Missgeschicke macht er sich verantwortlich.
Das erschöpfte Selbst
Die Signatur der Depression ist die Erschöpfung - so lautete eine These der Soziologin Christine Morgenroth vom Institut für Soziologie der Universität Hannover. Im Zeitalter der Postmoderne ist die Erschöpfung ein Resultat der herrschenden Beschleunigungsdynamik.

Deren Motto lautet: "Organisiere Deine Möglichkeiten so, dass Du Dich am Optimum der Technologien befindest!"

Der erfolgreiche Mensch, der gesellschaftliche Anerkennung genießt, soll sich auf die rasch ändernden Vorgaben der Industrie einstellen; seine Lebenszeit wird dem Rhythmus der Produktion angepasst. Dabei geht die Fähigkeit verloren, auf Begrenzungen zu achten.
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Die Depression in Zahlen
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden etwa 300 Millionen Menschen weltweit an dieser Erkrankung. Im Jahr 2020 wird die Depression die zweithäufigste Volkskrankheit sein. 15 bis 30 Prozent aller Erwachsenen erkranken mindestens ein Mal im Leben. 80 Prozent der Erkrankten haben Suizidgedanken.

Bei 70 Prozent der Erkrankten kommt es zu Komorbidität, das heißt zu Mischformen zwischen Depression und Panikattacken/Persönlichkeitsstörungen/Suchterkrankungen.
An der Depression erkranken Frauen fast doppelt so oft wie Männer, im Alter gleichen sich die Zahlen an. Etwa 20 Prozent der Patienten reagieren nicht auf Psychopharmaka.
->   Definition der Depression (WHO)
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Der "flexible Mensch" als Modul der "fließenden Moderne"
Der Sozialpsychologe Heiner Keupp von der Ludwig-Maximilians-Universität München analysierte die gesellschaftlich-ökonomischen Gegebenheiten, die die Entstehung von Depressionen verursachen.

Dabei bezog er sich auf den amerikanischen Soziologen Richard Sennett, der vom "flexiblen Menschen" spricht. Der "Neue Kapitalismus" sprengt alle Grenzen und löst alle Institutionen auf, die dem Menschen eine Verankerung in der Gesellschaft sicherten. Im Zeitalter der "fließenden Moderne" (Zygmunt Bauman) ist das Ideal der "modulare Mensch" (Ernest Gellner): Er hat keinen stabilen, festen Charakter, sondern "stellt ein Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten" dar.

Der Mensch lebt in einer grundlegenden Unsicherheit; sein Leben gleicht einem "Navigieren auf Sicht", "einem Dahintreiben im Ungewissen" (Richard Sennett), das für Depressionen empfänglich ist.
Individuelle Depression
"Die dunkle Seite der Depression" hat der in Hamburg tätige Architekt Holger Reiners selbst erlebt. Den Weg aus dem "Schneckenhaus" der Depression beschrieb er als langwierig und schwierig.

Ein Patentrezept für die Gesundung existiere nicht. Es sei für den Depressiven nicht einfach, Angebote auf dem Marktplatz der Therapien auszuwählen. Petra Kümmler, Psychotherapeutin in München, empfahl "Bausteine einer Therapie", die sie als "Psychoedukation" verstand.

Wichtig wäre dabei vor allem - mit Hilfe des Therapeuten/der Therapeutin - die Veränderung von festgefahrenen Verhaltensweisen, der Aufbau von Aktivitäten, der Versuch, konkrete Problemlösungen zu entwerfen und sich realistische Ziele zu setzen.
Nobilitierung der Depression - die Melancholie
Die Depression hat eine enge Verwandte: die Melancholie. Der Kunsthistoriker Jörg Völlnagel, der die umfangreiche Ausstellung "Melancholie - Genie und Wahnsinn in der Kunst" der Staatlichen Museen zu Berlin mitgestaltete, beschrieb die Bedeutung der Melancholie für die Kulturgeschichte.

Die Melancholie wurde nicht nur negativ gesehen. Bereits in der Antike tauchte bei Theophrast die Frage auf, "warum alle außergewöhnlichen Menschen wie die Philosophen Empedokles, Sokrates oder Platon ebenso wie die Helden der Tragödie Melancholiker seien".
Der Melancholiker als Dissident
Die Melancholiker werden als Menschen beschrieben, die sich gegen ein scheinbar festgefügtes, bereits vorbestimmtes Schicksal stellen. Der Melancholiker verweigert sich dem Mainstream des konventionellen Lebens und bezahlt dafür mit dem hohen Preis der Traurigkeit.

Der Melancholiker ist der Entwurzelte, der Dissident, der jeder Gesellschaftsform eine gewisse Distanz entgegenbringt. Darin liegt auch ein Widerstandspotenzial gegen den Beschleunigungswahn der gegenwärtigen Gesellschaft.

Rückzug, Verweigerung, Verlangsamung und melancholisches Träumen seien Möglichkeiten - so der Politologe, Schriftsteller und Präsident des deutschen PEN-Clubs Johano Strasser -, die noch das Element der Lebensqualität bewahren, das der postmodernen Spektakelgesellschaft längst verloren ging.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 30.3.07
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Literaturhinweise:
Stephan Hau/Hans Joachim Busch/Heinrich Deserno: "Depression zwischen Lebensgefühl und Krankheit", Vandenhoeck & Ruprecht
Jean Clair (Herausgeber): "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst", Hatje Cantz Verlag
Laszlo F.Földenyi: "Melancholie", Matthes und Seitz
Christine Morgenroth: "Von der Eile, die krank macht und der Zeit, die heilt", Herder Verlag
Alain Ehrenberg: "Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart", Campus
Richard Sennett: "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus", Btb-Verlag
Zygmunt Bauman: "Flüchtige Moderne", Edition suhrkamp
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Studie: Depressive Verstimmungen immer häufiger (23.11.05)
->   Depressionsbarometer für Deutschland entwickelt (6.7.05)
 
 
 
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01.01.2010