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Kritik vor den ersten kompletten "Uni-Wissensbilanzen"  
  Nach einer Testrunde im Vorjahr müssen die österreichischen Universitäten Ende April erstmals vollständige "Wissensbilanzen" vorlegen. Sie sind die ersten Institutionen weltweit, die gesetzlich zur Darstellung ihres "immateriellen Vermögens" verpflichtet sind. Kritiker halten die Wissensbilanzen für Fleißaufgaben der Uni-Bürokratie, die innovationsfeindlich wirken.  
Das neue Instrument der Berichtslegung wurde im Universitätsgesetz 2002 festgelegt und dient als Grundlage für die Erstellung der Leistungsvereinbarungen zwischen Ministerium und Universitäten.

Ziel der Wissensbilanz ist es, das "intellektuelle Vermögen" von Universitäten und deren Leistungen transparent zu machen.
Ursprung im Finanzdienstleistungssektor
1994 legte der schwedische Versicherungskonzern Skandia als erstes Unternehmen weltweit einen "Intellectual Capital Report" vor. In Ergänzung zu herkömmlichen Bilanzen, die lediglich monetäre Werte abbilden, sollte dieser Bericht Auskunft über die immateriellen Vermögenswerte des Unternehmens geben - Werte wie die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die interne Struktur oder Kooperationsbeziehungen.

Seither haben immer mehr Unternehmen, Forschungseinrichtungen und öffentliche Institutionen in Europa und den USA begonnen, solche Intellectual Capital Reports zu publizieren. Im Deutschen hat sich dafür die Übersetzung "Wissensbilanz" eingebürgert.
->   Wissensbilanz (Wikipedia)
Internationale Vorreiter bei Wissensbilanzierung
Mit der Wissensbilanz-Verordnung 2006 für die österreichischen Unis wurden weltweit erstmals gesetzliche Standards festgelegt, wie diese Bilanzen auszusehen haben.

Vier Bereiche gilt es dabei zu beschreiben: Die Zielsetzungen und Strategien einer Universität, ihr "intellektuelles Vermögen" in Form von "Human"-, "Struktur"- und "Beziehungskapital", ihre "Kernprozesse" in Lehre und Forschung und den "Output" dieser Prozesse. Ein narratives Resümee beschließt die stark mit quantifizierenden Kennzahlen arbeitende Wissensbilanz.

Viele der zu erhebenden Daten wurden zwar an den Universitäten auch schon in der Vergangenheit erfasst. Die 55 Kennzahlen, die ab 2006 zu erheben sind, bedeuten jedoch einen erheblichen administrativen Mehraufwand.
->   Wissensbilanz-Verordnung (pdf-Datei)
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Mit dem Thema Wissensbilanzierung beschäftigt sich auch die aktuelle Ausgabe des Forschungsmagazins at.venture im Beitrag "Die Vermessung der Wissensgesellschaft".
->   at.venture
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Spezifische Kennzahlen für Medizin- und Kunstunis
Zwei Universitätstypen sind zur Erhebung zusätzlicher Kennzahlen-Sets verpflichtet: die Medizin- und die Kunstuniversitäten. Damit wird versucht, den spezifischen Zielsetzungen dieser Universitäten gerecht zu werden.

Gerade von Seiten der Kunstuniversitäten kam im Vorfeld der Wissensbilanz-Verordnung harsche Kritik: "Dass speziell eine Kunstuniversität nicht als Summe von Kennzahlen begriffen werden kann, ist offensichtlich", kritisierte die Universität für Angewandte Kunst Wien in ihrer ersten Wissensbilanz 2005.

"Künstlerische Schaffensprozesse sind von Individualität, Nicht-Formulierbarkeit und Kreativität geprägt und lassen sich im Rahmen von zahlenmäßig quantifizierenden Erfassungsversuchen kaum abbilden."
->   Wissensbilanz der Universität für Angewandte Kunst 2005 (pdf-Datei)
Kritik am Instrument Wissensbilanz
Zweifel, in wie weit sich künstlerische und wissenschaftliche Prozesse in Form von Wissensbilanzen darstellen lassen, werden jedoch auch an anderen Universitäten artikuliert.

Als einer der profiliertesten Kritiker der Wissensbilanz gilt Konrad P. Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien. Wissen werde in Wissensbilanzen zwar nicht bilanziert, schreibt Liessmann in seiner Theorie der Unbildung (Zsolnay 2006). "Sehr wohl wird aber vorgegeben, welche Art von Aktivität unter dem Titel 'Wissen' positiv bewertet und deshalb in Zukunft erwartet wird."

Mit Erkenntnis und der Freiheit der Wissenschaft habe das nichts zu tun, kritisiert Liessmann. Wenn es nur mehr um die Erfüllung von Zielvorgaben gehe, dürfe man sich nicht wundern, "dass bei allem Wissenszuwachs der Wissensgesellschaft das Erkenntnisvermögen derselben allmählich verkümmert."
Unerwünschte Lenkungseffekte
Auch Gerhard Fröhlich vom Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Linz ist skeptisch: "Gesammelte Informationen sind kein Wissen."

Für Wissensbilanzen gelte zudem wie für alle Instrumente der Evaluierung die These des Wissenschaftstheoretikers Klaus Fischer, wonach jede Evaluation innovationsfeindlich und konservativ sei. Gerhard Fröhlich gegenüber science.ORF.at: "Nach heutigen Evaluierungskriterien würde Einstein sofort aus dem Lehrveranstaltungsverzeichnis fliegen. Denn er hatte zunächst nicht mehr als ein oder zwei Studierende in seiner Vorlesung."

Wissensbilanzen würden außerdem unerwünschte Lenkungseffekte evozieren und etwa die beliebte "Salamipublikationstaktik" befördern, so Fröhlich: "Wenn nur die Publikationseinheiten gezählt werden, ist es natürlich attraktiv, in möglichst kleinen Einheiten zu publizieren."
Bilanz der Bilanz bleibt abzuwarten
Für eine Bilanz des Instruments Wissensbilanzierung an den Universitäten ist es derzeit dennoch zu früh.

Cornelia Blum vom Rektorat der Universität Wien: "Mit den ersten vollständigen Wissensbilanzen, die Ende April dem Ministerium vorgelegt werden, ist ein beidseitiger Lernprozess (für das Ministerium und die Universitäten) verbunden, der sicher noch nicht abgeschlossen ist."

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 3.4.07
->   "Wissensbilanz: Bilanz des Wissens?" (Österr. Rektorenkonferenz)
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Die Wissensbilanz und der Cusanus-Club (24.10.06)
->   Boku: Erste Wissensbilanz nach UG 2002 präsentiert (27.8.05)
 
 
 
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01.01.2010