News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Wahrheit statt "Bullshit"  
  Der US-amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hasst inhaltsleeres Geschwafel. Was es mit all dem "Bullshit" auf sich hat, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, klärte er in seinem letzten Buch. In seinem neuen begründet er, warum wir auf die Wahrheit nicht verzichten können.  
Was ist Bullshit?

"Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?", lauteten früher einmal typisch philosophische Fragen. Heute schreiben Philosophen eher solche Sachen: "Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Schärflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden."

Harry G. Frankfurt, emeritierter Professor an der Princeton University, wollte sich mit der Allgegenwart des Bullshits nicht abfinden und hat deswegen ein Buch darüber geschrieben. Nicht, um als Oberlehrer aufzutreten und anderen Autoren Fehler oder Missbräuche der Sprache nachzuweisen, wie das etwa die beiden Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont vor einigen Jahren getan haben. Sondern um zu klären, was das überhaupt ist: Bullshit.

Denn: "Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage, Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzureichend erforscht worden ist."

Das mag auch daran liegen, dass es sich dabei nicht gerade um einen klassischen philosophischen Topos handelt, ebenso wenig wie etwa bei Sodbrennen, Blumentöpfen und Autoreifen. Aber das ist nicht ganz richtig. Denn Bullshit hat etwas mit Lüge zu tun und ihr Gegenteil - nämlich die Suche nach Wahrheit - war den Philosophen immer schon ein Anliegen.
Zwei Arten von Täuschungen
Was also tut jemand, der schwafelt, Phrasen drischt, heiße Luft absondert? Der Bullshitter hat mit dem Lügner gemeinsam, dass er etwas vorgibt, was nicht den Tatsachen entspricht. Beide schwindeln irgendwie, dennoch besteht ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen.

Der Lügner behauptet etwas, von dem er weiß, dass es falsch ist. Bullshit kann ebenfalls faktisch falsch sein, muss aber nicht falsch sein. Die entscheidende Eigenschaft des Bullshitters ist, so Frankfurt, dass er uns über seine Vorhaben täuscht.

Er gebraucht Worte so, dass sie ihn in einem bestimmten Licht erscheinen lassen. Er achtet ausschließlich darauf, dass seine Worte eine bestimmte Wirkung haben, dass sie seine Zuhörer manipulieren, statt zu informieren. Das ist der einzige Zweck seiner Rede. Und genau diese Intention versucht er vor uns zu verbergen.

Der Lügner, schreibt Frankfurt, ist jemand, der sich gegen die Wahrheit auflehnt, aber immerhin akzeptiert, dass es Wahres und Falsches gibt. Den Bullshitter kümmert hingegen nicht einmal das: "Er weist die Autorität der Wahrheit nicht ab und widersetzt sich ihr nicht, wie es der Lügner tut. Er beachtet sie einfach gar nicht. Aus diesem Grund ist Bullshit ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge."
Warum die Wahrheit wichtig ist

Das ist Frankfurts zentrale These. Man tut sich schwer, ihr nicht zu folgen, sofern man selbst der Meinung ist, dass es tatsächlich Wahrheit gibt und dass sie ein wichtiges Orientierungsmittel darstellt. Das hat Frankfurt stillschweigend vorausgesetzt. In seinem neuen Buch "Über die Wahrheit" liefert er nun die Begründung dieser Ansicht nach.

Dabei streift er einige klassische Quellen. Viele Autoren waren der Meinung, dass ein Leben ohne Wahrheit gar nicht denkbar sei, dass ein auf Lüge gebautes Zusammenleben zu einem Kollaps der Gesellschaft führen würde.

"Da wir uns allein durch das Wort verständigen können, verrät, wer es fälscht, die Gesellschaft", heißt es etwa in den Essais von Montaigne: "In Wahrheit ist das Lügen ein verfluchtes Laster." Frankfurt gesteht diesem Standpunkt eine gewisse Plausibilität zu, hält ihn aber letztlich für überzogen. Nicht die Gesellschaft sei das eigentliche Angriffsziel der Lüge, sondern wir persönlich.
Einsam durch Lüge
Lügen machen uns zunächst einmal orientierungslos. Sie "sind darauf angelegt, unseren Zugriff auf die Realität zu beschädigen. ... Insoweit wir ihnen Glauben schenken, wird unser Geist von Fiktionen, Phantasien und Illusionen okkupiert und beherrscht, die sich der Lügner für uns ausgedacht hat."

Und sofern die Lügen von uns vertrauten Menschen stammen, machen sie uns auch einsam, weil sie unsere Fähigkeit in Frage stellen, vertrauenswürdige Beziehungen von x-beliebigen zu unterscheiden.
"Die schamlosen Widersacher der Vernunft"
Das setzt freilich immer noch voraus, dass man mit dem Begriff "Wahrheit" irgendetwas anzufangen weiß. Frankfurts Hauptangriff wendet sich daher gegen jene "Postmodernisten" (wer auch immer damit konkret gemeint sein soll), die meinen, alles sei relativ und von der subjektiven Sicht der Dinge abhängig, auch die Vernunft und die Wahrheit.

"Diese schamlosen Widersacher der Alltagsvernunft ... bestreiten selbstgerecht und rebellisch, dass die Wahrheit überhaupt eine objektive Realität besitzt. Daher bestreiten sie auch weiterhin, dass die Wahrheit eine obligatorische Wertschätzung oder Achtung verdient."
Clemenceaus Grenze
Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Daher wiederholt Frankfurt ein paar etwas abgestandene pragmatische Argumente. Etwa: Wer würde schon einem Arzt vertrauen, der nicht an die Wahrheit glaubt? Oder einem Ingenieur, der nicht der Meinung ist, dass eine Brücke ein objektives Belastungslimit aufweist?

Relativisten entgegen dem üblicherweise, dass es eben auch noch andere Disziplinen als Medizin oder Statik gebe, die sehr wohl eine persönliche Interpretation des Forschers benötigen, die Geschichtswissenschaft etwa. Stimmt schon, lautet Frankfurts Replik. Aber auch da gebe es Grenzen.

"Es existiert eine Dimension der Realität, in die selbst die kühnste - oder die faulste - Zügellosigkeit der Subjektivität nicht wagen kann einzugreifen. Dies ist der Geist der berühmten Antwort, die Georges Clemenceau gab, als man ihn aufforderte, Mutmaßungen darüber anzustellen, was künftige Historiker über den ersten Weltkrieg sagen würden: 'Sie werden nicht sagen, dass Belgien in Deutschland einmarschiert ist.'"

Robert Czepel, science.ORF.at, 11.4.07
...
Literaturhinweise
Harry G. Frankfurt: Bullshit. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff; Suhrkamp Verlag, Franfurt a. M. 2006; 74 S.
Harry G. Frankfurt: Über die Wahrheit. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer; Hanser Verlag, München 2007; 94 S.
...
->   Harry Frankfurt - Wikipedia
->   Harry Frankfurt - Princeton University
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010