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Auf den Schultern des Kollektivs  
  Wissenschaft ist Gruppenarbeit. Dass diese Feststellung für die Naturwissenschaften gilt, ist schon seit längerem bekannt. Mittlerweile dominiert auch in den Sozialwissenschaften die Forschung im Kollektiv - und selbst in den Humanities und Künsten gibt es einen Trend zu Gemeinschaftsprojekten.  
Das ergab die Auswertung von rund 20 Millionen Fachpublikationen der letzten 50 Jahre, berichtet ein Team um Brian Uzzi von der Northwestern University in Evanston.
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"Team Assembly Mechanisms Determine Collaboration Network Structure and Team Performance" von Roger Guimera et al. erschien auf der Website von "Science" (doi: 10.1126/science.1106340).
->   Abstract
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Paradebeispiele: Physik und Biowissenschaften
Man muss kein Szientometriker sein um zu vermuten, dass es in der Wissenschaft einen Trend zur Teamarbeit gibt. Speziell in jenen Feldern, wo aufwändige Experimente im Labor durchgeführt werden, etwa der Hochenergiephysik und der Biomedizin. In diesen beiden Disziplinen ist es keine Seltenheit, dass die Autorenliste eines Fachartikels mehr Platz beansprucht als die Zusammenfassung der Ergebnisse.
Der einsame Denker
Andererseits hält sich noch immer das Klischee vom genialen Einzelkämpfer, der seine Ideen im stillen Kämmerlein entwickelt und die Wissenschaft Kraft seiner Gedanken in eine Phase des Umbruchs führt.

Gerne wird in diesem Zusammenhang auf Albert Einstein verwiesen, der in seiner Zeit am Berner Patentamt die Spezielle Relativitätstheorie, die Lichtquantenhypothese und die - später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete - Arbeit über den photoelektrischen Effekt entwickelte.
Euklid, Mendel & Co.
Verstärkt wird diese Art der Wahrnehmung noch durch den täglichen Sprachgebrauch. Einflussreiche Konzepte werden meist mit Namen einzelner Persönlichkeiten gleich gesetzt: Die Unschärfrelation ist nach Werner Heisenberg benannt, die Geometrie der Ebene und des Raums nach Euklid und die Gesetze der klassischen Genetik nach Gregor Mendel.

Freilich gibt es auch Gegenbeispiele. In der Physik spricht man etwa von Greenberger-Horne-Zeilinger-Zuständen und der Ghirardi-Rimini-Weber-Theorie. Nur: Wer will sich solche Wortungetüme schon merken? Außerdem werden Auszeichnungen - allen voran der Nobelpreis - nach wie vor Forscherpersönlichkeiten zuerkannt. Preise für Forscherteams sind indes Mangelware.

Und dann geistert noch folgende Vermutung durch die Literatur: Teams mögen für Großprojekte und Apparateforschung unverzichtbar sein. Dort, wo es um zündende Ideen und die Zusammenschau der Dinge geht, könnte immer noch der Einzelforscher überlegen sein.

Unter anderem deswegen, weil Gedanken in dutzenden Hirnen eben nicht so einfach zu koordinieren sind wie in einem. F. Scott Fitzgerald drückte diesen Gedanken einmal so aus: "No grand idea was ever born in a conference."
Kollaborative Forschung im Kommen
Hatte er Recht? Eine aktuelle Studie liefert keinen Hinweis darauf, dass wissenschaftliche Solisten im Vorteil sind. Im Gegenteil, der Trend zur Mehrautorenschaft und zur kollaborativen Forschung verstärkt sich zusehends.

Brian Uzzi von der Northwestern University und seine Kollegen untersuchten knapp 20 Millionen Fachartikel und 2,1 Millionen Patente der letzten fünf (bzw. drei) Jahrzehnte und fanden folgende Zahlen: In den Naturwissenschaften verdoppelte sich die Zahl der Autoren pro Veröffentlichung. Waren es 1955 noch zwei, sind heute an einem paper im Schnitt 3,9 Autoren beteiligt.

Überraschenderweise gibt es auch in den anderen Disziplinen einen klaren Trend zur Forschung im Ensemble. In den Sozialwissenschaften gingen 1955 lediglich 17,5 Prozent der Veröffentlichungen auf das Konto von Teams, heute sind es bereits mehr als die Hälfte.

Anteilsmäßig hinken zwar die Künste und Geisteswissenschaften mit rund 90 Prozent Solopublikationen hinterher, dennoch lässt sich auch hier über die Jahrzehnte eine Zunahme des Teamwork erkennen.
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Psychologie, Politik und Mathematik
Drei Einzelbeispiele: Die Psychologie zählt in der Analyse von Uzzi und Kollegen zu den Sozialwissenschaften und ist in diesem Feld - wohl aufgrund ihrer teilweisen experimentellen Ausrichtung - am stärksten gemeinschaftlich orientiert (Teamzuwachsrate seit den 50ern: 75 Prozent). Die Politikwissenschaften im Übrigen am wenigsten (plus 17 Prozent).

Selbst in der Mathematik, die lange als die Domäne der Soloforschung galt, gibt es mittlerweile einen Überhang in Richtung Kollektiv. 1955 stammten noch 81 Prozent der Publikationen von Einzelautoren, heute sind es 43.
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"Impact" im Team größer
Soweit die Rohdaten. Wissenschaftliche Qualität wird von manchen Szientometrikern mit der Zahl von Zitaten gleichgesetzt, die eine Studie in der Forschergemeinde auslöst. Andere lehnen diese Gleichsetzung ab und sehen darin nur eine (wertfreie) Maßzahl für publizistische Resonanz.

Wie dem auch sei: Die Analyse von Uzzi und seinen Kollegen ergab, dass Gemeinschaftsstudien öfter zitiert werden als solche mit nur einem Autor - und zwar in sämtlichen untersuchten Feldern. Der Trend bleibt auch bestehen, wenn man einige rechnerische Korrekturen vornimmt und relative Publikationsraten sowie Selbstzitierungen berücksichtigt.

So gesehen dürfte Fitzgeralds Vermutung heute nicht mehr ganz zeitgemäß sein: Auch bei Konferenzen entstehen mitunter einflussreiche Ideen.

Robert Czepel, science.ORF.at, 16.4.07
->   Brian Uzzi - Northwestern University
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01.01.2010