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Erinnerungs-Gespinste im Kino der Jahrtausendwende  
  Schon in seiner Frühzeit hat das Kino Wege gefunden, Gedächtnisprozesse auf die Leinwand zu bringen. Der Filmwissenschaftler Matthias Wittmann vom IFK in Wien untersucht, wie das in der Gegenwart geschieht. Anhand ausgewählter Filmbeispiele zeigt er in einem Gastbeitrag, wie das Kino der Jahrtausendwende Phänomene von Erinnern und Vergessen abbildet.  

Blackouts und implantierte Erinnerungen
von Matthias Wittmann

Das Thema "Gedächtnis" erlebt im Kino der Jahrtausendwende eine augenfällige Konjunktur.
Gedächtnisblockierte Filmfiguren führen Indizienprozesse gegen sich selbst oder müssen hinter den mühsam freigelegten Vergangenheitsschichten ihre eigene Leiche entdecken; Firmen verkaufen implantierte Erinnerungen und Gehirnwäschen;

Mikrochips speichern Erinnerungen für spätere Erinnerungstrips; Tätowierungen und Polaroids ersetzen nicht vorhandene mentale Repräsentationen; Leinwände und Bildschirme fungieren als Gedächtnisprothesen; Kameraaugen dringen in Privatsphären und Eigenheime ein.
Selbst das Nichts ist bebildert
Die mentalen Bilder der Filmfiguren folgen in zunehmendem Maße der visuellen Logik der Medien. Das letzte Erinnerungsbild, das Francoise in Christian Petzolds Gespenster (2005) von ihrer entführten Tochter Marie mit sich trägt, ist ein technisch installiertes Bild: die Erinnerung an die Aufnahme einer Überwachungskamera.

Auch in Abel Ferraras The Blackout (1997) wird die Auswirkung der technischen Bilder auf die Sinnbildung verhandelt. Der Gedächtnisausfall des Protagonisten präsentiert sich als Bildschirmrauschen. Selbst das Nichts ist nur bebildert vorstellbar.
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Vortrag am IFK
Matthias Wittmann hält am Donnerstag, den 19. April 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Screen your mind. Erinnerungs-Gespinste im Kino der Jahrtausendwende".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Geschichte wird durch Abbildung "erzeugt"
Die Präsenz der Gedächtnisthematik im Kino um die Jahrtausendwende hat zweifellos symptomatischen Charakter. Zahlreiche Diskursformationen stellen die Kulturen und Praxen der Erinnerung vor neue Herausforderungen.

Das allmähliche Verschwinden der lebendigen Zeitzeugenerinnerung an die Shoah bringt eine Historisierung der Opfererfahrung mit sich. Der Blick auf die Vergangenheit ist ein zunehmend medialisierter.

Transnational zirkulierende Bilder werden zu Ereignissen und setzen sich in den individuellen wie kollektiven Gedächtnissen fest. "Wir sehen gegenwärtig Bilder, die Geschichte nicht abbilden, sondern sie erzeugen" (Horst Bredekamp).
Erinnerungskulturelle Beben
Auch die vermehrten Veröffentlichungen von Individualerinnerungen in Form von Memoiren, Autobiographien oder Familienchroniken pluralisieren die Perspektiven auf die Vergangenheit und provozieren Plagiats- wie Fakevorwürfe (wie sie z.B. gegenüber Conny Hannes Meyer oder Feridun Zaimoglou erhoben wurden).

In der Belletristik mehren sich die historischen Fiktionen. Zu nennen wäre etwa Philip Roths Roman The Plot Against America (2005). Hinzu kommen die Einblicke, die Gehirnforschung und Neuropsychologie in die Unzulänglichkeiten der individuellen Erinnerung liefern.

Gedächtnisinhalte gelten nicht mehr als mumifizierte Speicherobjekte, sondern als situativ gebahnte Erregungsmuster und neuronale Verknüpfungsstrukturen.
Vergessen und Erinnern
Vergessen und Erinnern sind nur scheinbar Gegensätze. Mnemosyne, Göttin der Erinnerung, gebar die Musen, damit diese "Vergessenheit brächten der Leiden und Ende der Sorgen" (Hesiod). Bei Platon ist ein Schluck aus dem Wasser der Lethe, dem Fluss des Vergessens, die Voraussetzung für das Wiedererinnern.

Und für Sigmund Freud schließen sich "Bewusstsein und Gedächtnis" aus. Die Aufnahmebereitschaft des Bewusstseins für neue Eindrücke beruht auf dem Vergessen-Können, d.h. auf der Entsorgungsmöglichkeit der Erinnerungsspuren in andere, unbewusste Systeme.
Richtige und falsche Fährten im Kino
Dieses innige Verhältnis von Entfallen und Einfallen kommt im Film auf vielfältige Weise zum Tragen. Das Bewegungssehen kann nur dann zu Stande kommen, wenn sich ein Bild an die Stelle des anderen schiebt. Gerade das Vergessen und die Blackouts zwischen den Bildern werden zur Voraussetzung dafür, weiter wahrnehmen zu können.

Im Film sind es meist Unfälle und damit einhergehende Gedächtnisausfälle, die die Figuren auf mentale "Hexenlinien" (Gilles Deleuze) schicken. Im OFF der projizierten Filmwelt lauert Ausgeblendetes, das sich allmählich und in verrätselter Form einblendet.

Visuelle Fragmente, "Déjà-vu"-Effekte und Halluzinationen fungieren als semantische Puzzlesteine und locken das Kinopublikum auf richtige wie falsche Fährten.
Film als Gedächtnisprothese ...
"Wir haben tatsächlich eine Objektivierung unserer Gedächtnisfunktion", schreibt der Psychotechniker und Harvard-Professor Hugo Münsterberg angesichts der filmischen Rückblendentechnik. Seine frühe, zukunftsweisende Filmstudie "The Photoplay: A Psychological Study" (1916) verschaltet mentale mit filmischen Techniken und betrachtet den projizierten Film als Simulation von Gedächtnisvorgängen.

Schon in der Frühzeit des Kinos finden sich höchst innovative Strategien, mentale Prozesse auf die Leinwand zu bringen. Dieses Formenrepertoire hat sich im Spannungsfeld von Konvention und Abweichung derart ausdifferenziert, dass heute von einer spezifisch filmischen Mnemographie - Erinnerungsschrift - gesprochen werden kann:

Es wird mit Schärfenverhältnissen, Bildüberlagerungen und "Subliminal Images" gearbeitet; Erinnerungsbilder stoßen den Figuren wie "Geschoße" (Walter Benjamin) zu; die Kamera erlaubt es, die erinnerte Zeit als begehbaren Raum zu inszenieren. Und besonders die technischen Innovationen im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten zur Formung von Erinnerungsbildern erheblich erweitert.
... und Metaphernmaschine
Zwar haben Hirnforschung und experimentelle Neuropsychologie in den vergangenen Jahren zahlreiche Verfahrensweisen entwickelt, um neuronale Aktivitäten auf den Bildschirm zu bringen, der subjektive Erlebnisgehalt von Bewusstseinsprozessen entzieht sich allerdings weiterhin einer direkten Aufzeichnung.

Der Film kann daher als Gedächtnisprothese in doppelter Hinsicht betrachtet werden: Als externes Speichermedium stützt er unser Erinnerungsvermögen, als Metaphernmaschine gestaltet er nicht nur unsere Vorstellungen vom Erinnern, sondern verändert auch unseren Blick auf die Vergangenheit.

[17.4.07]
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Über den Autor
Matthias Wittmann studierte Germanistik und Philosophie/Psychologie/Pädagogik an der Universität Wien. Er ist IFK_Junior Fellow und Doktorand am Institut für Philosophie der Universität Wien. Filmwissenschafter und -vermittler, Kurator von Filmschauen. Publikationen u. a.: Hinter dem blauen Samtvorhang. Neun Denkbruchstücke zu David Lynch, in: Thomas Ballhausen/Günter Krenn/Lydia Marinelli (Hg.), Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film, Wien 2006; Herausgeber von:
->   filmdiskurs.com
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IFK-Junior Fellowships
Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben.
->   IFK
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01.01.2010