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Architektur: Wie man Anführungszeichen baut  
  Zitiert wird an vielen Orten, unter anderem in Texten, im Film und in der Musik. Zitate wiederholen dabei etwas aus berufener Quelle, verändern dabei durch das neue Umfeld aber immer auch den Sinn. Wie man "Anführungszeichen bauen" kann, erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Ullrich vom IFK Wien in einem Gastbeitrag. Ein Beispiel dafür aus der Architektur zeigt, was Wien mit Capri verknüpft.  
Zitate in der Architektur
Von Anna Ullrich

Wien und Capri sind durch eine Treppe verbunden: Die neue Hauptbibliothek am Wiener Gürtel von Ernst Mayr besteht aus einer großen Freitreppe, die in das Bibliotheksgebäude übergeht.

Diese Treppenkonstellation ist ein Zitat des Hauses "Casa Malaparte" über den Klippen von Capri - prominent in Szene gesetzt in Jean-Luc Godards Film "Le Mépris".

Während auf Capri die Treppe auf eine Terrasse mit spektakulärem Meerblick führt, eröffnet das Bibliotheksplateau einen Ausblick über das Verkehrsgewirr und Häusermeer Wiens.
Zwischen Wiederholung und Veränderung
 
Bild: IFK

Das Original auf Capri und das Zitat am Wiener Gürtel

Aber was ist überhaupt ein Zitat? Einerseits ist ein Zitat dadurch gekennzeichnet, dass es mit seiner Quelle identisch ist, sonst könnte es nicht als ihr Stellvertreter fungieren; andererseits finden im Prozess des Zitierens stets semantische Veränderungen statt, denn ein Element wird aus einem Gesamtzusammenhang ausgewählt, als Zitat inszeniert in einen neuen Kontext eingesetzt, wo es auf sein Umfeld wirkt. Diese Re-kontextualisierung erzeugt neuen Sinn.

Ein Zitat kann aber nur dann funktionieren, wenn das Publikum das Zitat als solches erkennt und in der Lage ist, dieses in der neuen Umgebung zu interpretieren. Wie kulturell fremd kann ein Zitat sein, damit es noch lesbar ist?

Oder anders gefragt: Welche Elemente sind in einer Kultur so präsent und populär, dass sie als Zitate erkannt werden? Es wäre zu diskutieren, wie ein kulturelles Gedächtnis der architektonischen Formen aussieht, auf das beim Zitieren zurückgegriffen werden kann.
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Vortrag am IFK
Anna Ullrich hält am Montag, den 30. April 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Von Architektur und Zeichen: Gebaute Zitate".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr zu der Veranstaltung (IFK)
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Das Zitat als das Fremde
Das Zitat ist in erster Linie ein sprachliches Phänomen, das seit der Antike Reden und Texte schmückt, es dient der Respektbezeugung oder stützt die eigene Argumentation.

Das Zitat als Textfigur ist verbunden mit einem Konzept von Eigenem und Fremdem. D.h., nur wenn davon ausgegangen wird, dass Eigenes und Fremdes unterscheidbar und voneinander trennbar sind, kann ein Zitat in Erscheinung treten.

Mit dem Auftauchen eines fremden Zitats im eigenen Text werden gleichzeitig Autorschaft und Urheberschaft behauptet; Grenzziehungen (Anführungszeichen) markieren dabei im Text den Übergang vom Eigenen zum Zitat.

Zitiert wird aber nicht nur in der Schrift, sondern auch in so unterschiedlichen Medien wie Film, Musik, Literatur und in der gebauten Architektur.
Was kann zitiert werden?
Prinzipiell lässt sich alles Zeichenhafte zitieren. Die Bedingung dafür ist, dass die Zeichen wiederholbar und repräsentativ sind für den Kontext, aus dem sie stammen.

In der Architektur kann Unterschiedliches zitiert werden: ein bestimmter Stil, ein Element, ein Kompositionsschema oder ein spezielles Material.

So greift der Architekt James Stirling bei der Neuen Staatsgalerie in Stuttgart den Grundriss des Alten Museums von Schinkel in Berlin auf - und bezieht sich damit auf das Paradebeispiel eines Museumsbaus.
Das Zitat als Stellvertreter
Warum wird in einem Bauensemble ein fremdes Architekturelement eingefügt und somit ein anderer raum-zeitlich verorteter Architekturzusammenhang präsent gemacht?

Architektonischen Zitaten werden verschiedenste Wirkungen und Funktionen zugesprochen: Mit ihnen kann Macht demonstriert werden, indem auf anerkannte Autoritäten der Baukunst und auf berühmte Bauwerke verwiesen wird.

Durch dieses Herbeizitieren soll die eigene Architektur nobilitiert und in eine bestimmte Bautradition eingereiht werden; bei neueren Bauten finden sich auch ironische Blicke auf die Historie.
Seit wann wird in der Baukunst zitiert?
Verweise auf bestehende Architekturen treten in unterschiedlicher Form epochenübergreifend auf, beispielsweise Stilaneignungen im Historismus oder eklektizistische Zitatcollagen im 20. Jahrhundert.

Bisweilen wird mehrfach derselbe architektonische Kontext aufgerufen: So wird der Palazzo Farnese in Rom sowohl im Arkadenhof der Wiener Universität (1884) zitiert als auch in einer Fassade im Quartier Schützenstraße in Berlin, das 1997 von Aldo Rossi erbaut wurde.

Durch die Baukunst zieht sich also ein sich stetig wandelndes Spiel der gebauten Verweise auf die architektonische Vergangenheit - vom Zitat über Anspielung und Motiv bis hin zur Collage.

Aber: Was ist noch Zitat oder schon Plagiat in der Architektur?

[27.4.07]
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Über die Autorin
Anna Ullrich, M. A., hat Kommunikationswissenschaft, Baugeschichte und Internationale Technische und Wirtschaftliche Zusammenarbeit an der RWTH Aachen studiert. Seit dem Jahr 2005 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der RWTH und Promotionsfellow am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg "Medien und kulturelle Kommunikation" an der Universität zu Köln. Publikationen: Musik - Transkription - Sprache. Musikalische Bearbeitung als Sinnerzeugung? Aachen 2006; Original, Identität, Bearbeitung, Bildidentitäten im Prozess, in: Oliver Kohns, Martin Roussel (Hg.), Einschnitte. Identität in der Moderne, Würzburg 2007.
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IFK-Junior Fellowships
Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben.
->   IFK
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01.01.2010