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Erster Mai: Zwischen Prekariat und Unterschicht  
  Am ersten Mai wird wie jedes Jahr der "Tag der Arbeit" gefeiert. Weil sich die Arbeitswelt verändert und immer mehr Menschen "prekär beschäftigt" sind, haben sich auch die politischen Ausdrucksformen geändert. Teile des neuen "Prekariats" machen auf ihre Lage - unsichere Lebensplanung und Einkommenssituation - bei den "EuroMayDay" genannten Veranstaltungen aufmerksam.  
Aber schon der Begriff "Prekariat" ist innerhalb der Sozialforschung nicht unumstritten. Barbara Eder, Soziologin an der Universität Wien, grenzt ihn in einem Interview gegen andere Konzepte ab - und hält ihn dann für relevant, wenn er soziale Phänomene nicht kulturalisiert und auch nicht zur Stigmatisierung der Betroffenen beiträgt.
science.ORF.at: Zurzeit gibt es viele Begriffe, die versuchen, den größer werdenden Rand der Gesellschaft zu charakterisieren: Prekariat, neue Unterschicht, die Ausgeschlossenen. Woher kommt diese Inflation an Begriffen?

Barbara Eder: Diese Begriffe werden in verschiedenen Diskursen sehr unterschiedlich gebraucht. Innerhalb der Soziologie wird der Begriff "Prekariat" mittlerweile zur Bezeichnung von ungeschützt Arbeitenden und Arbeitslosen verwendet. "Prekariat" wurde unter anderem auch von den französischen Autorinnen Anne und Marine Rambach in ihrer Arbeit "Les intellos precaires" im Jahr 2001 geprägt und bezog sich darin auf prekär beschäftigte Intellektuelle und KulturarbeiterInnen.

Er zielt heute aber nicht nur auf sie ab, sondern auch auf die Putzfrau oder den Putzmann ohne Aufenthaltsgenehmigung und hochqualifizierte Menschen beispielsweise im IT- Bereich, die keine Sozialversicherung haben oder etwa unter den Begriff der "Neuen Selbständigen" fallen. Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2006 zu den Lebensbedingungen in Deutschland kam dann eine Debatte über die "Neuen Unterschichten" auf.
Wörtlich wurde in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) noch vom "abgehängten Prekariat" gesprochen, in der Debatte wurde daraus schnell die "Neue Unterschicht", wie ist das passiert?

Durch eine mediale Verflachung. Politiker und andere Akteure in den Medien haben nur drei Minuten Zeit, um einen Begriff wie Prekariat zu erklären. Weil er zu komplex ist, ist das meist zu wenig. Der Begriff erleichtert die Kommunikation, beim Transformationsprozess von der Wissenschaft zu den Medien ist aber einiges verloren gegangen.
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Die politischen Typen in der Übersicht
Die FES-Untersuchung kam zu neun "politischen Typen", die sich hinsichtlich ihre politischen Wertevorstellungen und Einstellungen unterscheiden: Die Leistungsindividualisten (elf Prozent), die etablierten Leistungsträger (15 Prozent), die kritischen Bildungseliten (neun Prozent), das engagierte Bürgertum (zehn Prozent), die zufriedenen Aufsteiger (13 Prozent), die bedrohte Arbeitnehmermitte (16 Prozent), die selbstgenügsamen Traditionalisten (elf Prozent), die autoritätsorientierten Geringqualifizierten (sieben Prozent) und das abgehängte Prekariat (acht Prozent) - aus dem in den Medien schnell die "Neue Unterschicht" geworden ist.
->   Studie der FES "Gesellschaft im Reformprozess" (pdf-Datei)
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Worin liegen nun die Unterschiede zwischen den Begriffen "Prekariat" und "Neuer Unterschicht"?

Einer besteht in der Frage von Selbst- und Fremdzuschreibung. "Abgehängtes Prekariat" oder "Neue Unterschicht" ist eine Fremdzuschreibung, die nach der FES- Studie vielfach verwendet wurde, "Prekariat" hingegen eine Selbstzuschreibung, entstanden aus einer neuen sozialen Bewegung, die auf ihre Lage aufmerksam machen wollte, so wie jetzt im Umfeld von EuroMayDay.

In der FES-Studie bekam Prekariat dann eine ganz andere Konnotation im Sinne von "abgehängt" und "ausgeschlossen": Personen, die sich selbst aufgegeben hätten und die deswegen in Arbeitsverhältnisse "gesteckt" werden müssen.
An dieser unterstellten Antriebslosigkeit der Betroffenen haben Sie aber Zweifel?

Ja, ich halte den Begriff der Neuen Untersichten aus mehreren Gründen für problematisch. Zum einen wegen der Fremdzuschreibung, mittlerweile gibt es aber schon Weblogs wie www.unterschichtler.de, die diese Zuschreibungen ironisch umdrehen.

Zum anderen ist mit Begriffen wie "abgehängtes Prekariat" auch immer eine politische Apathie verbunden, und ich glaube, die gibt es nicht. Selbst im Internetcafe zu chatten und so den Kontakt zu seiner Community aufrechtzuerhalten, ist eine Form von Tun, von Betätigen in sozialem Zusammenhang und keine Passivität, wie immer unterstellt wird. Unter anderem haben die Aufstände in den französischen Banlieus im Oktober 2005 gezeigt, dass die so genannten Deklassierten ihre Lage nicht mit Gleichgültigkeit hinnehmen.

Der Begriff "Neue Unterschicht" wiederum zielt auf einen Klassenbegriff ab, der meines Erachtens gar nicht mehr funktioniert. Einerseits wird dieser ausschließlich aus soziodemografischen Variabeln gewonnen - in erster Linie auf Bildung und Einkommen -, andererseits wird daraus jedoch auf Lebensstile geschlossen, womit soziale Phänomene kulturalisiert werden.
Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit Kulturalisierung und was ist Ihre Kritik daran?

Damit meine ich die Unterstellung, dass Gewohnheiten und Lebensformen bestimmten Schichten zugeordnet werden können. Das ist ein Modell des 19. Jahrhunderts, wonach über Ökonomie automatisch auf Individuen geschlossen werden kann.

Das ist heute viel ausdifferenzierter. Wenn jetzt Leute wie Paul Nolte, Historiker und Soziologe an der FU Berlin, argumentiert, dass die Neue Unterschicht entsteht, weil sie sich mangelhaft an eine bürgerliche Leitkultur anpasst, dann kulturalisiert er das Phänomen. Ökonomie spielt überhaupt keine Rolle mehr dabei, der Klassenbegriff wird rein an einer kulturellen Zugehörigkeit festgemacht.

Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um das berühmte "Unterschichtenfernsehen", die vor einigen Jahren durch Harald Schmidt ausgelöst wurde. Auch das hat - überspitzt gesagt - vorausgesetzt, dass Arbeitslose den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und Trash-Sendungen konsumieren, wobei Soaps wie beispielsweise "Emergency Room" doch einen unvergleichlich hohen Beliebtheitsgrad unter Managern genießen.
Gleichgültig, wie man die neue Gesellschaftsschicht nun bezeichnet, was eint sie?

Die Frage nach dem Gemeinsamen ist schwierig, weil Variabeln der klassischen quantitativen Sozialforschung nicht mehr ausreichen. Weder das Haushaltseinkommen alleine noch der Bildungsgrad noch kulturelle Gepflogenheiten langen aus, um zu einem passenden Schichtbegriff zu kommen.

Prekariat ist selbst ein prekärer Begriff, weil man über die Differenzen hinwegsieht, und auch keine einende Massenbasis hat, auf deren Grundlage eine politische Bewegung stattfinden kann.

Ein Schlagwort lautet ja: Prekariat reicht vom Wischmopp bis zum Laptop. Wenn aber die erwähnte Putzfrau ohne Aufenthaltsgenehmigung und das Heer an Akademikern und Praktikantinnen zugleich gemeint ist, dann ist es schwierig, ein gemeinsames Fundament zu finden.
Gibt es ein solches Fundament oder erweist sich Prekariat überhaupt als sinnloser Begriff?

Was Lebensformen betrifft, gibt es natürlich Gemeinsamkeiten: etwa die prinzipielle Unplanbarkeit des eigenen Lebens. Freizeit und Arbeitszeit sind für das Prekariat nicht mehr eindeutig zu trennen - im Gegensatz zu den klassischen Angestellten, die zu einer bestimmten Uhrzeit nach Hause gehen können. Ganz wichtig ist natürlich auch die ungesicherte Einkommenssituation.

Ich finde den Begriff "Prekariat" prinzipiell sinnvoll, es besteht aber die Gefahr, dass er Differenzen negiert. Auch im soziologischen Diskurs hat seit den 1980ern eine ungeheure Ausdifferenzierung der Identitäten stattgefunden - in race, class, gender, sexual orientation usw. Über diese Differenzen bekommt man aber leider keine Einheit mehr zusammen.

Und insofern ist Prekariat vielleicht noch am ehesten das, was eine kollektiv geteilte Lebenswirklichkeit fassen kann und zudem eine ökonomische Komponente beinhaltet, die in anderen Identitätsmodellen gar nicht mehr vorkommt.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 1.5.07
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Tagung in Wien
Vom 3.-5. Mai 2007 findet an der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien die Tagung "Entsicherungsgesellschaft. Aktuelle Debatten zu Prekarisierung" statt. Veranstalter sind der Tagung von Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) und die Forschungswerkstatt In{}Fem.

Barbara Eder, Sozialwissenschafterin an der Uni Wien, beschäftigt sich dabei mit der medialen Vermittlung von "prekären
Lebensverhältnissen".
->   Programm der Tagung (pdf-Datei)
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->   EuroMayDay 2007
->   Interview mit dem Leiter der FES-Studie (WDR)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
->   Andrea Ellmeier: Prekäre Aussichten - prekarisierte Forscher (29.4.05)
->   Franz Seifert: Die gefährdeten Intellektuellen (9.12.02)
 
 
 
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01.01.2010